Liebe ist ...?
Wer hat beim Stichwort „Liebe“ nicht gleich romantische oder erotische Vorstellungen und Bilder im Kopf: Schmetterlinge im Bauch, rosarote Brille, Zweisamkeit, Verschmelzung, Begehren … wenn nicht immer unbedingt von den eigenen Erfahrungen geprägt, so durch Romane oder Kinofilme? Geht man mit derartigen Erwartungen in die Ausstellung „Liebe“, den zweiten Teil der Ausstellungstrilogie „Glaube, Liebe, Hoffnung“, findet man diese in den ausgestellten Werken augenfällig nicht oder zumindest nicht als Hauptaspekte der künstlerischen Umsetzungen.
Warum eigentlich nicht?
Olesja Nein, Kuratorin der „Liebe“, berichtet zunächst von ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema, die durchaus auch ein Prozess war. Alle drei Ausstellungen der Trilogie sind zwar eigenständige Projekte, die jeweils eine Kuratorin allein umgesetzt hat – so individuell wie auch die jeweils Verantwortliche. Dennoch gab es ja einen wesentlichen gemeinsamen Nenner, den Dreiklang „Glaube, Liebe, Hoffnung“, in Anlehnung an die christlichen Tugenden. Daher hat sich Olesja Nein zu Beginn ihrer Überlegungen mit dem Aspekt der Nächstenliebe befasst, steht diese doch in konkretem Bezug dazu. Schnell wurde ihr klar, dass diese biblische Tugend nicht isoliert von allen anderen Formen von Liebe zu trennen ist. Sie bedarf der Liebe zu sich selbst, aber auch der Anerkennung und Akzeptanz Anderer.
Be-Ziehungen
Es kristallisierte sich dann recht zügig die Zwischenmenschlichkeit als Leitmotiv und Ausgangspunkt heraus in all den Zwischentönen und Brüchen, die das Thema Liebe in sich vereint. Liebe, so Olesja Nein, ist also als „eine Form besonderer sozialer Beziehungen und Bindungen“, als „Ringen um Harmonie, Sehnsucht nach Schutz, aber als Erfahrung auch von Enge und Schmerz“ zu verstehen.
In ihrer Einführung zur Ausstellung zitiert die Kuratorin Maria Lassnig (1919–2014) und fasst damit einen der Widersprüche und mitunter schier unlösbaren Herausforderungen der Liebe zusammen: „Die Liebe ist dazu da, dass die Bäume leicht in den Himmel wachsen. Oder ist sie der Ballast, nach dessen freiwilligem oder erzwungenem Abwurf unser Ballon erst höher steigen kann?“ (Natalie Lettner, Maria Lassnig, Die Biografie, Wien 2017, S. 87–88). Lassnigs vier Arbeiten aus ihrer Serie Be-Ziehungen aus den 1990er-Jahren zeigen körperhafte Gebilde, die sie selbst als „Farbhäufchen“ bezeichnet hat. Diese sind durch malerische Linien miteinander verbunden, scheinen mitunter aneinander gefesselt zu sein. Unweigerlich stellt sich die Frage, ob sie gar von ihnen durchbohrt werden. Damit verweist Lassnig vor allem auf das grausame Moment zwischenmenschlicher Beziehungen.
„Love“
Die australische Künstlerin Tracy Moffatt (* 1960) wiederum kombiniert in ihrer Videoarbeit „Love“ von 2003 Ausschnitte von (Liebes-)Filmen aus Kino und TV aus den 1940er-Jahren bis in die 1990er-Jahre. Der Film beginnt mit einer eng getakteten Aneinanderreihung verblüffend identisch wirkenden Szenen von „Umarmungen starker Männer und schöner Frauen vor idyllischen Landschaften“ (Olesja Nein) und Liebesschwüren. Darauf folgen unmittelbar völlig gegensätzliche Szenen sicht- und spürbarer Enttäuschung und daraus resultierender Streitereien, die schließlich in Szenen eskalierender gegenseitiger körperlicher Gewalt münden. Moffatt parodiert damit das eingangs skizzierte Ideal romantischer Liebe und enttarnt es als klischeehaftes Stereotyp. Damit schafft sie einen sehr wechselhaften Blick auf das Thema, der zwischen Belustigung zu Ironie, dem Gefühl von Lächerlichkeit und erschreckend Absurdem schwankt. Wie realistisch oder gar verbindlich ist also unsere eigene Vorstellung von (Paar-)Liebe?
Selbstlosigkeit?
Einen weiteren Aspekt von Liebe thematisiert der deutsche Maler Wolfgang Mattheuer (1927–2004) in seiner Darstellung einer Mutter, die in einer unwirtlichen Landschaft in ihrem nackten Körper ihre zwei Kinder birgt. „Selbstlosigkeit und Aufopferungsbereitschaft gelten als höchste und edelste Eigenschaften von Mutterliebe“, so erläutert Olesja Nein. Selbst nackt und damit möglichen Gefahren ausgesetzt, scheint Mattheuers Mutter diesem Ideal zu entsprechen – wäre dieser weibliche Körper nicht doch so kraftvoll, massiv und bildfüllend. Wer könnte diese körperhafte Festung überhaupt einnehmen? Wie sollen sich die Kinder jemals aus dieser lösen? Deutet sich in Mattheuers Gemälde womöglich der Konflikt aus (gegenseitiger) Abhängigkeit und dem mitunter schmerzhaften Prozess des Loslösens und Loslassens an?
Widersprüche
Allein diese drei künstlerischen Beispiele aus der Ausstellung „Liebe“ zeigen, wie komplex und im Grunde wenig greifbar das scheinbar so selbstverständliche Thema ist. Olesja Nein erzählt, sie habe so viele Bücher über die Liebe gelesen, immer auch mit dem Bedürfnis, „Du musst die Liebe definieren!“ Ein Fazit war dann sehr schnell, dass das so eindeutig einfach nicht möglich sei.
Dieser Erkenntnis ist auch die Auswahl der Kunstwerke gefolgt, die jedes für sich, aber auch in ihrer Gesamtheit die ganz unterschiedlichen und auch widersprüchlichen Aspekte von Liebe thematisieren. Für die*den Betrachter*in vielleicht mitunter unerwartet oder überraschend, dann dennoch vertraut und in manchen Ausprägungen möglicherweise nicht immer leicht zu ertragen.
Es sei für sie insgesamt eine sehr intensive Zeit der Auseinandersetzung gewesen, fasst Olesja Nein zusammen. Ihr Verständnis von Liebe habe sich natürlich nicht komplett verändert, aber es habe sich geschärft: Liebe verändert sich, ist etwas Aktives und basiert immer auch auf der Erkenntnis und der Akzeptanz der Tatsache, dass der andere eben anders ist. Aber, so schließt sie, „man kann lieben lernen!“
Olesja Nein hat an der Universität Osnabrück Kunstgeschichte und Geschichte studiert. Seit 2013 gehört sie zum Team der Draiflessen Collection. Sie hat die Ausstellungen „Die Kunst des Aufbewahrens“ und „Dem Bild gegenüber“ mitkuratiert.