STUDIENSAAL | 04.03.2020 – 11.10.2020

AM DRITTEN TAGE ...

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Die Auferstehung Christi am dritten Tage nach der Kreuzigung ist eines der Motive der neuen Kabinettausstellung. Diese präsentiert farbintensive, teilweise mit Gold verzierte Buchmalereien des niederländisch-deutschen Sprachraums vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit. 
Zu sehen sind biblische Szenen, die sich nicht nur durch ihre künstlerische Ausarbeitung und Detailvielfalt auszeichnen, sondern auch zeitgenössische Auffassungen widerspiegeln: die mittelalterlich-frühneuzeitliche Vorstellung der Auferstehung Christi und aller Toten. Diese ist nicht losgelöst von der Hoffnung auf das Himmelsreich und der Angst vor der Verdammnis zu betrachten. Beides wird bestimmt durch das eigene, gottgefällige Leben. 


Am dritten Tage ... | © Draiflessen Collection (Tuliba), Mettingen

Auferstehung

Der Akt der Auferstehung selbst wird in den vier Evangelien nicht  geschrieben. Lediglich das Matthäusevangelium erwähnt, dass das Grab Christi bewacht wurde (Mt. 27,62–66). Den Wunsch nach einer schriftlichen Veranschaulichung belegen aber die ausführlichen Beschreibungen der Apokryphen, der nicht in den Bibelkanon aufgenommenen Schriften. 
In den frühchristlichen Auferstehungsdarstellungen dominierten Motive der wachenden Frauen am Grabe Christi, in denen die Auferstehung Jesu lediglich durch die umgestoßene Grabplatte angedeutet wird. Bildwerke, in denen Christus tatsächlich aus dem Grab steigt oder über diesem schwebt, sind in der westlichen Kirche erst im 12. Jahrhundert nachweisbar und auf byzantinische Vorbilder zurückzuführen. Diese sind mit wiederkehrenden Attributen versehen, wie der Fahne der Auferstehung (in weiß mit rotem Kreuz oder umgekehrt), dem Segensgestus, den Wundmalen, dem roten Gewand oder dem Nimbus. Die späte Entwicklung dieser Darstellungsform begründet sich durch den kulturhistorischen Wandel im Hochmittelalter und den damit zusammenhängenden Wunsch nach der Sichtbarmachung des Heiligen. 


Johannes von Zazenhausen, Die Passion Christi, Text Deutsch, (Mainz, Worms oder Speyer?), 1464 | © Draiflessen Collection (Tuliba), Foto: Stephan Kube
Die Auferstehungsszene aus der Passion Christi des Franziskaners Johannes von Zazenhausen († ca. 1380) veranschaulicht in hellen und gedeckten Farben, wie Christus frontal dem Grab entsteigt. Von den vier Soldaten, die allesamt mit einem Lächeln auf dem Gesicht tief schlafen, bleibt dieser Akt unbemerkt. Lächelnde Gesichter begegnen den Rezipierenden, unabhängig von der dargestellten Erzählung und der zu vermittelnden Stimmung, auf mehreren Manuskriptseiten. Dies, der helle Farbenkanon, das polierte Gold und Silber sowie die einfachen Landschaftsdarstellungen, kennzeichnen den Stil des unbekannten Illuminators. 
Der Typus des aus dem offenen Grab steigenden Christus war vorwiegend im deutschen Mittelalter beliebt und teilweise bis ins 15. Jahrhundert weit verbreitet. Er betont den Vorgang der Überwindung des Todes – eine letzte Anstrengung, ein letztes Opfer, das noch der Passion zuzurechnen ist.


Diese Auferstehungsdarstellung, ein vergleichsweise spät handkolorierter Kupferstich aus den Südlichen Niederlanden, befindet sich in einem Rosenkranzbuch. Seine Anwendungsform beruht im Wesentlichen auf einer Meditationstechnik, bei der die Verse andächtig und rhythmisch, anhand einer Perlenschnur, wiederholt werden. Diese Praxis war bereits in mittelalterlichen Mönchskreisen bei markanten Psalmversen üblich. Die Laien hingegen beschränkten sich zunächst auf die Wiederholung des Vaterunsers (Pater Noster). Durch die aufkommende Marienfrömmigkeit im 11. und 12. Jahrhundert gewann das Ave Maria zunehmend an Bedeutung. 
Die Wiederholung von 50 Ave Maria zu Ehren der Jungfrau Maria zu beten, geht zurück auf eine mittelhochdeutsche Legendensammlung, dem Alten Passional aus dem 13. Jahrhundert: Einem jungen Mann wird der Rat erteilt, die Gottesmutter mit 50 Ave Maria zu ehren, anstatt mit einem geflochtenen Rosenkranz. Als er dies umsetzt, erscheint ihm Maria, die ihm jedes seiner gesprochenen Gebete in Form einer Blüte von seinen Lippen nimmt und daraus einen Kranz formt. 
Die Zisterzienser fügten den Versen des Ave Maria erstmals Passagen aus dem Leben Christi hinzu, was unabhängig davon auch der Kartäuser Dominikus von Preußen (1384–1460) tat. Dieser legte ebenfalls eine Anzahl 150 Ave Maria fest. Das rhythmisierende, noch heute in dieser Form bestehende Rosenkranzgebet wurde 1569 von Papst Pius V. (1504–1572) festgeschrieben. Das vorliegende Manuskript, in dem acht Kupferstiche fehlen, umfasst insgesamt 50 Meditationen. Dabei sind die Abbildungen aus dem Leben Christi jeweils auf der rechten Seite (recto) abgebildet und die Gebete auf der linken Seite (verso) zu sehen. In eigenem Stil, der durch die feine Schraffur und dem blau, grün, rot, orange und gelben Farbkanon gekennzeichnet ist, schwebt Christus erhaben über dem Grab.


Rosenkranzbuch: Die Passion Christi, Text Latein, Südliche Niederlande, 1516 | © Draiflessen Collection (Tuliba)
Passionsgeschichte und Gebetsbuch, Text Latein, Südliche Niederlande, nach 1517 | © Draiflessen Collection (Tuliba)
In dieser Passionsgeschichte aus den Südlichen Niederlanden schwebt Christus wie im Rosenkranzbuch über dem geschlossenen Grab. Das Motiv nimmt einerseits Bezug auf das Matthäusevangelium (Mt. 27, 66: „Sie gingen hin und sicherten das Grab mit der Wache und versiegelten den Stein.“), andererseits verweist das geschlossene Grab auf den jungfräulichen Schoß Marias. Im Unterschied zu den vorherigen Miniaturen bleibt der Akt der Auferstehung jedoch nicht völlig unbemerkt. So blicken beide im Vordergrund dargestellten Soldaten voller Erstaunen zum Auferstandenen auf. 
Das hier gezeigte Manuskript enthält Hinweise auf den ursprünglichen Auftragsort, denn ein Gebet verweist auf die Schlosskirche Wittenberg. Wittenberg war zu Beginn des 16. Jahrhunderts der bevorzugte Wohnort des Kurfürsten von Sachsen, Friedrichs des Weisen (1463–1525). Als Förderer der Künste und des Lernens erteilte er Künstlern wie Albrecht Dürer (1471–1528) und Lucas Cranach d. Ä. (1472–1553) Aufträge. Möglicherweise wurde das Manuskript für ein wohlhabendes Mitglied der höfischen und wissenschaftlichen Gemeinde in Wittenberg angefertigt.


Die Handschrift aus dem flämischen Raum veranschaulicht auf 58 Manuskriptseiten – bis auf wenige Ausnahmen ganz ohne Schrift – rein bildlich vor schwarzem Grund das Leben und die Passion Christi. Die schwarze Umrahmung hebt die starkfarbigen Miniaturen zusätzlich hervor. Ob die Illustrationen ursprünglich erklärende Textpassagen hatten, lässt sich aufgrund der neuen Bindung heute nicht mehr nachvollziehen. Erläuterungen waren jedoch aufgrund der anschaulichen Darstellungen nicht zwingend notwendig. Oftmals wurden die Gebete nach jeweils zwei Bildern oder am Ende des Bildzyklus eingefügt. Zudem war das ikonografische Programm zum Leben Christi den damaligen Zeitgenossen durchaus bekannt und bedurfte in der Regel keiner weiteren Erklärung. 
Die Auferstehungsszene wird der Erscheinung des auferstandenen Christus vor Maria Magdalena gegenübergestellt, der sogenannten Noli-me-tangere-Darstellung. Das Bildthema folgt der Beschreibung des Johannesevangelium und zeigt Jesus als Gärtner vor Maria Magdalena, die diesen zunächst nicht erkennt, erst als dieser sich offenbart. Ihren Wunsch nach einer Berührung verwehrt er mit den Worten „Rühre mich nicht an! (Noli me tangere)“ (Joh. 20,17), da er noch nicht zum Himmel aufgefahren war.


Das Leben und die Passion Christi, Brügge (?), ca. 1520–30 | © Draiflessen Collection (Tuliba)
In der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Vorstellung endet die irdische Weltgeschichte mit der Wiederkehr Christi als Weltenrichter. Die Hoffnung auf das Himmelsreich und die Angst vor der Verdammnis bestimmen das eigene gottgefällige Leben. Durch das Weltgericht wird die Einteilung nun endgültig. 
Für die christliche Ikonografie sind die Erzählungen in der Johannesoffenbarung (Offb. 4,1–4) und dem Matthäusevangelium (Mt. 25,31–33) wegweisend. Dennoch erscheint die Darstellung des vielteiligen Weltgerichts erstmals im 8. Jahrhundert. Typisch ist dessen registerartiger Aufbau von oben nach unten: Oben thront Christus, umgeben von Engeln und Aposteln, unten findet sich die Scheidung der Seligen von den Verdammten. 
Die präsentierten Weltgerichtsminiaturen sind alle nach dem gleichen Prinzip aufgebaut. Christus thront als Weltenrichter auf einem Regenbogen, zu seinen Füßen die Weltkugel, während sich am unteren Bildrand die Toten aus ihren Gräbern erheben. Die Posaunenengel am oberen Bildrand kündigen mit ihren Instrumenten das bevorstehende Jüngste Gericht an. Zudem wird Christus von Maria, rechts, und Johannes dem Täufer, links, flankiert. Diese Dreifigurengruppe geht zurück auf den byzantinischen Typus der Deesis (Fürbitte), denn in der christlichen Vorstellung fungieren Maria und Johannes der Täufer als Vermittler zwischen Gott und den Menschen.


Diese ausgestellte Doppelseite integriert das Jüngste Gericht in eine D-Initiale und in die zierende Randbordüre. Christus thront allein als Weltenrichter auf dem Regenbogen in der Initiale, dabei werden Maria und Johannes der Täufer nicht ins Bildgeschehen aufgenommen. Die posaunenden Engel sowie die auferstandenen Toten sind in die obere und untere Bordüren eingebettet. Kunstvoll an ihre Umgebung angepasst, sind sie erst auf den zweiten Blick auszumachen. 
Auf der gegenüberliegenden Manuskriptseite ist der betende David vor Goldgrund abgebildet – erkennbar vor allem durch das Attribut der Harfe. David wie auch König Salomo und Christus selbst versinnbildlichen die Verkörperung der Gerechten und die Weisheit des christlichen Herrschers. Eine direkte Gegenüberstellung dieser beiden Motive ist daher in christlichen Darstellungen üblich. 


Stundenbuch, Text Niederländisch, Zwolle, ca. 1465–75 | © Draiflessen Collection (Tuliba)
Stundenbuch, Text Niederländisch, Utrecht (?), ca. 1460 | © Draiflessen Collection (Tuliba)
Die Blütezeit der holländischen Buchmalerei des 14. und 15. Jahrhunderts wurde unter anderem geprägt durch die modischen Vorlieben des Adels, die wohlhabenden Auftraggeber, die Entwicklung der Tafelmalerei und der Druckgrafik sowie der Laienbewegung der Devotio Moderna. Diese entwickelte sich im Zuge der Reformtätigkeit von Geert Groote (1340–1384). Er bemühte sich unter anderem, dass die lateinischen Texte des Stundenbuchs in die Landessprache übersetzt wurden, um sie für Laien zugänglich zu machen. In den Illustrationen entfaltete sich Anfang des 15. Jahrhunderts eine zunehmend naturgetreue Wiedergabe, deren Merkmale die räumliche Tiefe, die Darstellung der Stofflichkeit sowie die lebendige Landschaft und der atmosphärische Himmel sind. 
Auch Utrecht war ein wichtiges Zentrum und der dort ansässige sogenannte Meister des Gijsbrecht van Brederode ein führender Illuminator. In dem vorliegenden Stundenbuch illustrierte er in sechs Initialen bedeutende heilige Geschichten, darunter das Jüngste Gericht. Trotz des kleinen Formats sind in der Anfangsinitiale alle markanten Elemente der Ikonografie (Dreifigurengruppe, Auferstandene und Engel) enthalten. 
Der Farbkanon des Bordürenschmucks greift die Farben der Initiale auf und lässt die Manuskriptseite als harmonisches Ganzes erscheinen. Unterhalb der kleinen goldenen Balken befinden sich kleine Drachenköpfe, ein Motiv, das im Utrechter Raum verbreitet ist. 


Haarlem galt gleichermaßen als Zentrum der Manuskriptmalerei. Einer der führenden Illuminatoren war der sogenannte Meister der Haarlemer Bibel. Seinen Stil kennzeichnen lineare, eckige Formen und ein farbenprächtiger Farbkanon. Auffällig ist sein zierlicher und gleichzeitig üppiger Bordürenschmuck mit geraden und gebündelten Linien. Dies veranschaulicht die gezeigte Manuskriptseite, in der das Jüngste Gericht farbenfroh inszeniert ist. 
Der Ikonografie folgend, thront Christus auf einem schwarzen Regenbogen, der als Trennung zwischen irdischer und himmlischer Sphäre fungiert. Reduziert auf das Wesentliche, ist die irdische Landschaft in partiellem Grün gehalten und mit lediglich einem auferstandenen Toten dargestellt. Die himmlische Welt hingegen erscheint in kräftigem Blau und ohne Posaunenengel. Deutlich zu erkennen ist das Schwert des Gerichtes in Kopfhöhe Christi, das auf die Johannesoffenbarung (Offb. 1,16 ) verweist: „Und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und aus seinem Munde ging ein  scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Angesicht leuchtete, wie die Sonne scheint in ihrer Macht.“


Stundenbuch, Text Niederländisch, Haarlem, ca. 1460–70 | © Draiflessen Collection (Tuliba)
Stundenbuch, Text Niederländisch, Haarlem, ca. 1470–80 | © Draiflessen Collection (Tuliba)
Der sogenannte Meister des Londoner Jason war ebenfalls in Haarlem bekannt. Sein Name leitet sich von der „Historie von Jason“ ab, eine Erzählung, die er um 1475 bis 1480 illuminierte. In dem ausgestellten Manuskript sind von den ursprünglich sechs ganzseitigen Miniaturseiten nur noch vier vorhanden. 
Farbenfroh, mit lebendigen Posen und einer naturgetreuen Wiedergabe wird das Weltgericht inszeniert. Dies sowie die runden Gesichter und die weich modellierten Kleidungsstücke zeichnen diesen Illuminator aus.


Der internationale Handel und wohlhabende Kaufleute erhöhten die Nachfrage nach Stundenbüchern in Brügge. So etablierte sich dort ein weiteres Zentrum der Manuskriptherstellung mit eigenem Stil, der sich von den niederländischen Darstellungen abhob und sich nicht der naturgetreuen Wiedergabe verpflichtete. 
Das präsentierte Jüngste Gericht veranschaulicht die Charakteristika des „neuen“ Brügger-Stils: ohne Perspektive, mit flächigem Hintergrund, identischen Gesichtern und geradem Faltenwurf. Der Notname „Meister der Goldranken“ umfasst eine Gruppe mehrerer Illuminatoren, die insbesondere in den Jahren 1420 bis 1450 serienmäßig unzählige Stundenbücher anfertigten. Dabei griffen sie zumeist auf bestehende Vorlagen zurück. Ein markantes Merkmal ist der purpurne Hintergrund mit Goldranken.


Stundenbuch, Text Latein, Brügge, ca. 1430–1450, illuminiert von einem der Meister der Goldranken, Draiflessen Collection (Tuliba), Mettingen Ms. 18 | © Draiflessen Collection (Tuliba), Foto: Stephan Kube
Stundenbuch, Text Latein, Brügge, ca. 1450–60 | © Draiflessen Collection (Tuliba)
Die prächtige Buchillustration und die Größe des Stundenbuchs liefern Hinweise darauf, dass der ursprüngliche Besitzer wohlhabend war. Zudem weisen die verzierten Miniaturen, die zahlreich illuminierten Initialen sowie die aufwendigen Verzierungen in der Marge auf unterschiedliche Einflüsse, wie auf die Goldranken-Gruppe, auf Jan van Eyck (um 1390–1441) und Willem Vrelant (?–1481/82). 
Auffällig sind die musizierenden Wesen, die sich farblich ins Randdekor integrieren. Ihre Funktion ist in der Forschung umstritten. So werden sie einerseits als Schmuck und belustigendes Element gedeutet, andererseits sollen sie wohl den Inhalt begleiten.


Spannend im Zusammenhang mit Miniaturen zum ewigen Leben ist die Frage nach der Darstellungsmöglichkeit der Seele, da der Bibel keine äußerliche Beschreibung zu entnehmen ist. Im frühen Mittelalter wurde die Seele oft durch einen Vogel dargestellt, während im Hoch- und Spätmittelalter eine nackte, kleine, zumeist weibliche Gestalt charakteristisch war. Dass Nacktheit mit Geburt und Tod verbunden wird, geht zurück auf Hiob: „Nackt bin ich zur Welt gekommen, und nackt verlasse ich sie wieder.“ (Hiob 1,21). 
Die Engel fassen die Seelen nicht mit bloßen Händen an, sondern berühren diese mit einem Tuch, was keine Seltenheit ist. Einerseits kann das Tuch als Symbol für die Ehrfurcht vor der Person, dem Gegenstand, dem Nehmenden oder Gebenden dienen. Dies ist auf die Heiligenverehrung und das Verbot, das heilige Objekt mit blanken, unreinen Händen zu berühren, zurückzuführen. Andererseits wird dem Tuch eine Schutzfunktion beziehungsweise die Sündenvergebung zugeschrieben.


Das Stundenbuch aus den Händen des Meisters von Beatrijs van Assendelft’s Vita Christi und den Meistern der Delfter Halbfiguren zeigt das Weltgerichtsgeschehen auf zwei gegenüberliegenden Manuskriptseiten: Links ist die Seelenwägung des Heiligen Michael zu sehen und rechts die sogenannte Seelenfahrt, eingebettet in eine M-Initiale. 
Der Akt der Wägung ist hier eingebettet in eine Architektur. Michael hält die ausgeglichene Waage fest in seiner linken Hand. In jeder der beiden Waagschalen befindet sich eine kleine Seele in menschlicher Gestalt. Gleichzeitig erdolcht er mit seiner rechten Hand das teuflische Wesen zu seinen Füßen, das im Begriff ist, die linke, die „böse“ Seite der noch ausgeglichenen Waage, nach unten zu ziehen.
Demgegenüber schweben in der M-Initiale drei kleine, nackte und er-löste Seelen, die von zwei flankierenden Engeln in einem Tuch getragen werden, durch den Himmel. Der untere Initialrand folgt der Beschreibung des Matthäusevangeliums (Mt. 25,31–33: „Und er [der Menschensohn] wird sie voneinander scheiden […] und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken.“). Dementsprechend schmoren auf der rechten Seite (also links vom Menschensohn) die Verdammten im Höllenschlund. Hoffnungslosigkeit ausstrahlend blicken sie, sich ihrem Schicksal ergebend, nach unten, während die guten Seelen auf der linken Seite (rechts vom Menschensohn) hoffungsvoll gen Himmel und zu den Engeln aufsehen. 
Der auffällige Bordürenschmuck mit seinen roten und blauen Federstrichen und dem integrierten Skelett sind stilistische Merkmale der Meister der Delfter Halbfiguren.


Stunden- und Gebetbuch, Text Niederländisch, Delft, ca. 1480 | © Draiflessen Collection (Tuliba)
Auferstehung der Toten und Himmelsreise der Seelen (fol. 205v), aus: Stundenbuch, Delft, ca. 1480 und Leiden, ca. 1490–1500, illuminiert vom Meister der Delfter Halbfiguren sowie hinzugefügten Miniaturen eines Leidener Meisters | © Draiflessen Collection (Tuliba), Mettingen Ms. 15, Foto: Ruben de Heer
Das vorliegende Stundenbuch wurde von mehreren Illuminatoren bearbeitet. So sind sieben der ganzseitigen Miniaturen später hinzugefügt worden, auch die hier ausgestellte Manuskriptseite. Der Illuminator umrahmt die Miniatur blockartig, mit winzigen grünen, blauen und roten Blättern. Mit der flächigen Verwendung von blauen, roten und grünen Tönen hebt sich die Darstellung der Seelenfahrt gegenüber der Bordüre ab. 
Am Anfang des Totenoffiziums wirkt die ganzseitige Miniatur ungewöhnlich positiv, friedfertig und voller Hoffnung. Am oberen Bildrand überwacht Gott das Handeln zwischen Himmel und Hölle. Gleich unterhalb ist auch hier das Motiv der drei kleinen, nackten Seelen im Tuch zu sehen, das von zwei Engeln gehalten wird. In der Bildmitte finden sich weitere Engel mit geretteten Seelen und im unteren Drittel Seelen in grüner Landschaft, die in hoffnungsvoller Erwartung die Arme nach oben gestreckt halten oder mit Gebetsgestus auf die helfende Hand der Engel warten. Die Versuche der teuflischen Wesen, sie davon abzuhalten, scheinen vergeblich.


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