01.02.2022

Abiturrituale im Wandel der Zeit

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Das Abitur markiert nicht nur den Abschluss der höheren Schullaufbahn, sondern auch den Eintritt in das Erwachsenenleben. Das Erlangen der Hochschulreife wurde von den Abiturienten deshalb bereits im 18. Jahrhundert besonders gefeiert. Ritualisierte und an studentischen Bräuchen orientierte Festveranstaltungen wie der Kommers genannte Umtrunk und das Singen von Studentenliedern gehörten bis in die 1960er-Jahre fest zum Ablauf von Abiturfeiern an vielen Gymnasien in Deutschland. Angelehnt an akademische Verbindungen wählten sich Abiturienten, später auch Abiturientinnen, eigene Farben. Sie trugen diese bei den Abiturfeierlichkeiten als Band und Mütze, oft mit einem monogrammartigen Erkennungszeichen, dem sogenannten Zirkel, bestickt. So zeigten sie nach außen ihre Verbundenheit und wiesen zugleich auf ihren bald neuen Status als Student*in hin. Auch der Abiturient Arnold Ludger Brenninkmeijer, der in den 1920er-Jahren die Leitung der C&A-Hauptverwaltung in Amsterdam übernahm, hat zu seinem Schulabschluss an der Oberrealschule in Münster im Jahr 1914 ein solches Outfit getragen. Ein Foto, das in der Draiflessen Collection überliefert ist, zeigt ihn im Kreis seiner Mitabiturienten.


Die Abschlussklasse 1914 der Oberrealschule in Münster | © Draiflessen Collection
Vor nunmehr fünf Jahren, im Jahr 2017, wurde die Mütze, die Arnold Ludger auf dem Foto trägt, an die Draiflessen Collection abgegeben. Doch nicht nur diese: Auch eine Schärpe und ein sogenanntes Cerevis, eine aufwendig bestickte Kopfbedeckung, kamen samt originaler Hutschachtel in die Sammlung. Als Dachbodenfund und teilweise durch Mäusefraß beschädigt, waren diese Textilien in einem kläglichen Zustand und mussten zunächst fachmännisch restauriert werden. Als seine Farben wählte der Abiturjahrgang 1914 die Kombination aus Violett, Weiß und Grün, die sich auch auf der eigens gestalteten Postkarte wiederholt werden, die die Abiturutensilien Arnold Ludger Brenninkmeijers ergänzt.
Längst gehören Schärpe und Cerevis, Band, Mütze und Zirkel nicht mehr zur Ausstattung von Abiturient*innen. Doch auch in der Gegenwart kommen Abiturklassen nicht ohne gemeinschaftsstiftende Symbole aus, die auch Ausdruck in der Kleidung finden – etwa durch einen mit den Namen aller Mitschüler*innen bedruckten Hoodie und ein gemeinsames Abiturlogo und -motto. Die Form mag sich geändert haben – der Wunsch, durch äußerlich erkennbare Merkmale als Mitglied einer Abiturklasse erkennbar zu sein, scheint trotz allen Wandels geblieben zu sein. 
Ausstellungsansicht ABITURRITUALE | © Draiflessen Collection, Foto: Henning Rogge
Ein seltenes Filmdokument aus dem Archiv des Gymnasium Dionysianum in Rheine zeigt, wie die Abiturienten noch bis in die 1960er-Jahre ihr Abitur gefeiert haben – äußerlich und im Ablauf wohl ganz ähnlich wie auch Arnold Ludger Brenninkmeijer dies schon getan haben dürfte: Dem offiziellen Teil in der Aula in Anwesenheit der Rheiner Honoratiorenschaft folgte der noch heute dort übliche Eselszug durch die Innenstadt. Indem die frischgebackenen Abiturienten ihre Schulhefte der Ems überantworteten, fand die Schulzeit ihren symbolischen Abschluss. Doch zunächst wurde noch mit den Lehrern, denen man ein Schülerleben lang mit Respekt begegnen musste (dies wurde jedenfalls erwartet) der Kommers gefeiert. In dessen späteren Verlauf und nach Genuss so manchen Glases Bier war nun erlaubt, was wohl noch Wochen zuvor zu einem Verweis geführt hätte: Unter dem heiteren Beifall und Gelächter aller durften die Pauker parodiert und in deren Anwesenheit durch den Kakao gezogen werden.
Filmausschnitt Gymnasium Dionysianum Rheine, 1960 | © Draiflessen Collection | Archiv Dionysianum Rheine
Diese Art das Abitur zu feiern, kam in den späten 1960er-Jahren aus der Mode. Schülerinnen und Schüler rebellierten gegen die in ihren Augen elitären und nicht mehr zeigemäßen Traditionen. Die uniforme Kleidung aus dunklem Anzug oder Kostüm, Band und Mütze hatte zugunsten von Jeans, Minirock und T-Shirt ausgedient. Kommers und Ball wichen allerlei neuen und unangepassten Formen das Ende der Schullaufbahn zu feiern, wie eine Fotowand in der Ausstellung dokumentiert: Grillen auf dem Kreisverkehr in Gronau, Wasserschlacht in Gütersloh und mit dem Esel durch Rheine.
Abitur 1962 | © Draiflessen Collection
Um die Jahrtausendwende war das Abitur längst kein Freibrief mehr, der alle Tore öffnete. Angst vor Arbeitslosigkeit und Zukunftssorgen prägten das Gefühl so manchen Jahrgangs, der aus dem Schoß der Schule entlassen wurde und dessen Mitglieder sich nun in der Welt allein zurechtfinden mussten. So manches Cover einer Sammlung von Abiturzeitungen aus Petershagen verleiht dieser Sorge Ausdruck. Die Abiturient*innen heute stehen vor ganz neuen Sorgen: Die Pandemie hat schon die Abiturvorbereitungen und Abschlussfeiern von zwei Jahrgängen beeinträchtigt. Dass die diesjährige Abiturientia wieder unbeschwert und ohne Maske und Abstandsregeln feiern darf, ist eher unwahrscheinlich. Wie die Abiturient*innen des Kardinal-von-Galen-Gymnasiums in Mettingen im vergangenen Jahr mit dieser Situation umgegangen sind, haben sie in Interviews und in einem Kunstprojekt zum Ausdruck gebracht. Deutlich wird dies in einem Film und durch das von der Abiturientin Pia Zaruba aus schwarzen OP-Masken genähte Ballkleid gezeigt. Dass Feiern auch unter Corona-Bedingungen möglich sind, haben die Abiturient*innen der letzten beiden Jahre unter Beweis gestellt. Denn wie auch für Arnold Ludger Brenninkmeijer vor über 100 Jahren bedeutet der Schulabschluss auch heute noch das Ende eines alten und den Beginn eines neuen Lebensabschnitts – und das muss gefeiert werden!
Ausstellungsansicht ABITURRITUALE | © Draiflessen Collection, Foto: Henning Rogge

Kai Bosecker, der Autor dieses Beitrags, ist seit 2009 als Historiker für die Draiflessen Collection tätig. Er war Mitkurator der Sonderausstellung „Phänomen Familienunternehmen" (2016/2017) und Kurator für die Präsentation „Soziales Engagement aus Tradition und Verpflichtung", DAS Forum (2019/2020).

Den Blogbeitrag finden Sie außerdem auf der Homepage der LWL-Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen.

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