16.06.2022

DIE KUNST DER WIEDERHOLUNG in der Draiflessen Collection

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Wieder einmal führte mich eine Ausstellung nach Mettingen, diese beschauliche Gemeinde nicht weit von Osnabrück entfernt. Das letzte Mal, als ich da war – das ist bereits drei Jahre her –, nahm ich in der Draiflessen Collection an der Eröffnung der Ausstellung GLAUBE teil. Der Titel der jüngsten Ausstellung in dem Museum klang gleichermaßen verheißungsvoll: DIE KUNST DER WIEDERHOLUNG. Obwohl ich nicht viel über die Schau wusste, war ich neugierig zu sehen, was die Draiflessen Collection dieses Mal präsentieren würde.

Die Draiflessen Collection ist eines der interessantesten Museen in Deutschland. Die Ausstellungen sind immer sorgfältig kuratiert, und die Themen sind einzigartig. Im Folgenden finden Sie in diesem Blogbeitrag einen Bildbericht von der wunderschönen Ausstellung in der Draiflessen Collection, begleitet von Fotos und weiteren Informationen.

Nun zu DIE KUNST DER WIEDERHOLUNG.
Die Draiflessen Collection in Mettingen | © George Pavlopoulos

Was ist DIE KUNST DER WIEDERHOLUNG?

Nach einem intensiven Rundgang durch die Ausstellungshalle wird klar, worauf sich der Titel bezieht. Statt sich mit berühmten Kunstwerken zu befassen, verfolgt die Ausstellung einen anderen Ansatz: Ihr Ziel ist es, nachgebildete Kunstwerke zu zeigen. Dabei geht es nicht um die Frage nach dem unbestreitbaren Wert der Kunst. Vielmehr geht es darum, was mit der Kunst geschieht, wenn sie reproduziert wird.

Aus diesem Grund werden Sie in DIE KUNST DER WIEDERHOLUNG keine Originale sehen. Stattdessen finden sich in der beeindruckenden Museumshalle zahlreiche Repliken berühmter Kunstwerke. Es sind Gemälde, Gipsabdrücke, Korkmodelle und Drucke präsentiert, die Originale nachbilden. Im Mittelpunkt dieser Ausstellung steht die Frage: Warum braucht(e) es nachgebildete Kunst?

Darauf gibt es nicht nur eine Antwort. Kunstrepliken gibt es aus verschiedenen Gründen. Sie können existierende Kunstwerke rekonstruieren oder ihnen andere Formen verleihen. Oder man kann bekannte Werke in andere Medien übertragen. Was noch wichtiger ist: Die Wiederholungen veranschaulichen die verschiedenen Ausprägungen eines bestimmten Kunstwerks im Laufe der Jahrhunderte. Viele bekannte Kunstwerke wären ohne ihre Repliken einem breiteren Publikum gar nicht zugänglich. Man kann sogar behaupten, dass Kunstformen antiker Kulturen nur aufgrund ihrer Nachbildungen so bekannt und weit verbreitet werden konnten.

DIE KUNST DER WIEDERHOLUNG in der Draiflessen Collection präsentiert mehrere Aspekte der Bedeutung von Wiederholungen. In gewisser Hinsicht spiegelt  sie eine jahrhundertelange Geschichte, wie Kunst wahrgenommen, präsentiert, untersucht und ausgestellt wird.

Die Ausstellungssektionen
Im großen Ausstellungssaal der Draiflessen Collection erstreckt sich die gesamte Präsentation. Doch die Ausstellungsarchitektur ist in verschiedene Sektionen unterteilt. Jede bietet andere Formen von Kunstwiederholungen und fokussiert unterschiedliche Herangehensweisen. Im Folgenden werden die einzelnen Sektionen der Ausstellung erläutert.

Teil I: Die Gipsabgüsse der Venus von Milo

Die Venus von Milo (oder Aphrodite von Milos), eine der bedeutendsten Statuen des späten Hellenismus, nimmt einen wichtigen Platz in der Ausstellung ein. Nach ihrer Entdeckung im frühen 19. Jahrhundert avancierte die Venus von Milo zu einer der bekanntesten Skulpturen aller Zeiten. Die Tatsache, dass sich die Originalstatue im Louvre befindet, trug offensichtlich zur Verbreitung ihrer Bedeutung bei.

Die Ausstellung zeigt fünf Repliken der Venus von Milo. Bei allen handelt es sich um Gipsabgüsse, eine Technik, die im 19. Jahrhundert große Beliebtheit erlangte. Mit Hilfe der Gipsabgusstechnik konnten etliche Repliken bekannter Kunstwerke hergestellt werden, die immer jedoch ihre eigenen Charaktieristika aufweisen.
Gipsabgüsse der Venus von Milo. | © George Pavlopoulos

Teil II: Die Aegineten

Die Aegineten wurden 1811 auf der griechischen Insel Aegina entdeckt. Ihre Geschichte ist nicht nur durch den Prozess ihrer Identifizierung, sondern auch durch die Debatte bezüglich ihrer Restaurierung und Präsentation geprägt. Fünf Jahre nach ihrer Entdeckung (1816) wurden die Aegineten von Prinz Ludwig I. von Bayern erworben. Er beauftragte Bertel Thorvaldsen, die fehlenden Elemente dieser Giebelskulpturen des Aphaia-Tempels zu rekonstruieren und zu ergänzen.

Im Jahr 1830 wurden die restaurierten Ägineten in der Münchener Glyptothek präsentiert, und die Diskussion darüber zog sich über Jahrzehnte hin. In den 1960er-Jahren wurden Thorvaldsens Ergänzungen schließlich entfernt.

DIE KUNST DER WIEDERHOLUNG in der Draiflessen Collection präsentiert eine Reihe von Exponaten rund um die Aegineten: von Gipsabgüssen und Skizzen bis hin zu Abgüssen in Kunstmarmor.
Skizzen der Aegineten, Carl von Hallerstein, 1811 | © George Pavlopoulos

Teil III: Die Repliken des Torso vom Belvedere

Der Torso vom Belvedere gehört zu den herausragendsten Skulpturen der römischen Antike. Man findet kaum ein anderes römisches Werk, das so häufig reproduziert wurde. Obwohl in früheren Zeiten die Nachbildung und Ergänzung fehlender Teile die übliche Praxis waren, betraf das die Repliken des Torso vom Belvedere zunächst nicht. Erst in den 1990er-Jahren begann man in der Glyptothek in München mit der Gipsrekonstruktion des Torso als in Gedanken versunkener Ajax.

In dieser Zeit wurden auch etliche kleinere Gipsmodelle angefertigt und der gesamte Prozess in Schwarz-Weiß-Fotos dokumentiert. Viele dieser Gipsabgüsse sind in der Ausstellung in der Draiflessen Collection zu sehen, zusammen mit einigen Fotos von Christa Koppermann, welche die Repliken des Torso vom Belvedere als Ajax dokumentieren.
Gipsabguss: Belvedere Torso Arbeitsmodell für die Rekonstruktion als der sinnende Aias; 1990er Jahre. | © George Pavlopoulos

Teil IV: Korkmodelle

Die zunehmende Reiseaktivität im 18. Jahrhundert veränderte die Art und Weise, wie wir alten kulturellen Stätten wahrnehmen. Einige dieser Orte wurden beliebte Reiseziele, und bald inspirierten sie auch Künstler. In Italien avancierte Kork zu dem Material, das man zur Herstellung von Architekturmodellen benutzte.

Diese Miniaturen aus Kork erlaubten den Menschen, entfernte Denkmäler zu studieren und vermittelten ihnen Informationen über antike Gebäude. Neben den Korkmodellen, die in DIE KUNST DER WIEDERHOLUNG gezeigt werden, sind auch Ansichten dieser Denkmäler von Angelo Uggeri zu sehen.
Modell aus Kork: Ein Detail aus Luigi Carottis "Kolosseum". Vor 1845-50 | © George Pavlopoulos

Teil V: Gemäldekopien

Im 19. Jahrhundert war es eine übliche Vorgehensweise, dass Mäzene Gemäldekopien in Auftrag gaben. Dies machte man entweder, weil die Originale zu teuer oder weil nicht auf dem Markt verfügbar waren. Eine interessante Frage ist, ob wir diese Gemälderepliken heute nicht als etwas mehr als einfach nur „Ersatz“ betrachten sollten.

Das Lindenau Museum von Altenburg beherbergt eine umfangreiche Sammlung von Kopien, darunter auch eine Darstellung des Heiligen Protasius. Sie ist in der Draiflessen Collection zusammen mit drei Versionen der gleichen Verkündigungsszene zu sehen.
Kopie eines Gemäldes: Unbekannter Künstler, "St. Protasius", ca. 1845 | © George Pavlopoulos

Teil VI: Sixtinische Madonna

Ein weiteres legendäres Kunstwerk, das im 19. Jahrhundert unzählig reproduziert wurde, war Raffaels Sixtinische Madonna. Das 1512–13 für die Kirche San Sisto in Piacenza in Auftrag gegebene Bild gelangte 1753–54 in die Sammlung von August III. Doch trotz der zahlreichen Repliken der Sixtinischen Madonna können wir signifikante Unterschiede zwischen ihnen feststellen.
Anton Hille, "Sistine Madonna," 1913 | © George Pavlopoulos

Schlussgedanken

DIE KUNST DER WIEDERHOLUNG untersucht eine große Bandbreite an Kunstrepliken. Einer der wichtigsten Aspekte der Ausstellung in der Draiflessen Collection ist, dass sie weit mehr als die Kunstwerke präsentiert. Sie fühlt sich tatsächlich wie eine Zeitreise an, in deren Verlauf unterschiedliche Praktiken auch ganz unterschiedliche Ansätze in der Kunst bedeuteten.

Unter diesem Gesichtspunkt avanciert die Ausstellung zu einer Geschichte darüber, wie die Kunstwelt Kunst über die Jahrhunderte hinweg wahrgenommen hat, beeinflusst durch die Bedürfnisse der Sammler und Institutionen. Sollten Sie in diesen Teil Deutschlands unterwegs sein, sollten Sie in jedem Fall die Draiflessen Collection besuchen: Es wird eine bereichernde Erfahrung sein.
Ausstellungsansicht DIE KUNST DER WIEDERHOLUNG | © George Pavlopoulos

George Pavlopoulos, Autor dieses Beitrags, veröffentlichte drei Romane: 300 Grad Kelvin am Nachmittag (2007), Dampf (2011) und Die Grenze und die Welle (2014). Zuletzt erschien von ihm der Band mit Kurzgeschichten Von Zuhause so fern (2020). In seinem Reiseblog Letters to Barbara präsentiert er Texte zu und Fotos von den Orten und Gegenden, die er bereist.

Dieser Artikel wurde zuerst auf Georgos Pavlopoulos' Reiseblog Letters to Barbara veröffentlicht
(
https://letterstobarbara.com)

Übersetzung aus dem Englischen: Eva Dewes

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