17.01.2023

Was ist ein Stuhl?

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Dieser Essay erschien erstmals im Begleitmagazin zur Ausstellung THE FINAL BID. Im Magazin finden Sie die Abbildungen zu den im Text erwähnten Stuhlmodellen. Das Magazin ist kostenlos im Museum erhältlich.

100 Leute habe ich gefragt: Was ist ein Stuhl? 76 Personen sagten, ein Stuhl sei ein Sitzmöbel. Zwölf Personen sagten, ein Stuhl sei ein Statussymbol. Fünf Designer*innen sagten, ein Stuhl sei ein Entwurf in ihrer Schublade und vier Personen sagten, ein Stuhl sei auch zum Heizen in schweren Zeiten gut geeignet. Die übrigen drei Personen sagten, ich solle sie in Ruhe lassen.

Sie haben es sich vielleicht schon gedacht. Ich habe nicht wirklich 100 Leute befragt, schließlich bin ich nicht Werner Schulze-Erdel und das hier ist nicht die TV-Spielshow Familien-Duell. Dennoch stelle ich mir das Ergebnis einer Befragung von 100 Menschen zum Thema Stuhl so oder so ähnlich vor. Jede*r von uns besitzt ein eigenes Konzept davon, was genau einen Stuhl ausmacht. Und vermutlich decken sich Ihre Vorstellungen zum großen Teil mit meinen. Falls wir uns doch uneinig sein sollten, können wir im Streitfall immer noch den Duden befragen. Er beschreibt den Stuhl als „ein mit vier Beinen, einer Rückenlehne und gelegentlich Armlehnen versehenes Sitzmöbel für eine Person“. (1)
Wunderbar! Endlich eine Definition! Dass auch diese schnell an ihre Grenzen kommen kann, zeigt sich beispielsweise bei der Betrachtung des Panton Chairs des dänischen Designers Verner Panton aus dem Jahr 1960. Wir würden wohl alle zustimmen, dass es sich um einen Stuhl handelt, obgleich er die Kriterien des Dudens nicht vollends erfüllt. Was also ist ein Stuhl? Ist er wirklich nur ein Sitzmöbel oder erfüllt er weitere Zwecke? 


Stuhl der Ausstellung THE FINAL BID | © Draiflessen Collection, Foto: Henning Rogge
Von form follows Eitelkeit zu form follows Bestimmungsort über form follows Komfort bis zu form follows Grausamkeit findet sich für jede Idee ein entsprechendes Stuhldesign.
Beginnen wir mit form follows Eitelkeit. Als sich im Jahr 1645 der Großteil der hohen Gesandten der Konfliktparteien des Dreißigjährigen Krieges in Osnabrück und Münster zusammenfand, um über das Ende dieser fürchterlichen Geschehnisse zu verhandeln, mussten zuerst einmal alle anwesenden Egos befriedet werden, bevor man sich um eine europäische Lösung kümmern konnte. Dafür brauchte es ein neu entwickeltes diplomatisches Protokoll. So durften die Prinzipalgesandten der Kurfürsten beispielsweise in Sesseln Platz nehmen, während die Sekundärgesandten mit Stühlen oder Lehnbänken Vorlieb nehmen mussten. Dieses Beispiel aus der Geschichte verdeutlicht: Sitzen ist Macht! (2)

Im Laufe der Jahrhunderte hat sich das Sitzen, auch auf außergewöhnlichem Mobiliar, immer weiter demokratisiert. Heute können Sie sich sogar einen aufwendigen und bequemen Thron gestalten und bauen lassen, ohne dafür zwingend ein gottgegebenes Amt bekleiden zu müssen. Eine Überlegung, die angesichts der vielen Zeit, die wir im Sitzen verbringen, durchaus logisch erscheinen mag. Durchschnittlich 7,5 Stunden verbringen die Deutschen jeden Tag sitzend. (3)
Ist die Sorge also berechtigt, dass wir in Zukunft unseren aufrechten Gang aufgeben und uns zum Homo sedens entwickeln werden? Ganz so schlimm ist es vermutlich noch nicht. Dennoch bereitet das Sitzen dem Gesundheitswesen weltweit Kopfzerbrechen. Und so finden sich immer mehr praktische Ratgeber, die Sportübungen – wie sollte es anders sein – im Sitzen bewerben.

Doch weiter mit dem Motto form follows Bestimmungsort. Der österreichische Architekt Otto Wagner entwarf zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur den Neubau der Wiener Postsparkasse, sondern auch gleich die gesamte Inneneinrichtung selbst. Er nutzte jegliches Material bewusst, um hierarchische Strukturen innerhalb des Gebäudes zu verdeutlichen. Der von Wagner entworfene Standardstuhl wurde von der Firma Thonet als Modell Nr. 6516 produziert. Ein Modell wohlgemerkt, das heute in der einfachsten Ausführung schnell mehrere Hundert Euro kosten kann. Durch Veränderungen bei den verwendeten Materialien erzeugte Wagner kleine, aber feine hierarchische Abstufungen zwischen den Stühlen: Waren die Sitze im Direktionsbereich aus dunkel gebeiztem Buchenholz gefertigt, mit Aluminiumbeschlägen an den Füßen und Lehnen versehen sowie mit Velours gepolstert, so besaß die schlichteste Version für die kleinen Büros zwar ebenfalls die Aluminiumbeschläge, dafür aber eine Sitzfläche aus perforiertem Sperrholz. (4)
Auch in diesem Fall kann man davon sprechen, dass Sitzen Macht verdeutlicht. 


Ausstellungsansicht Michael Pinsky, THE FINAL BID | © Draiflessen Collection, Mettingen/Michael Pinsky, Foto/photo: Henning Rogge
In unserer Zeit wird die Devise form follows Komfort wichtiger. Während unsere Vorfahren ihre Tage auf der Suche nach Essen und Wasser verbrachten oder mühsam einen Acker bestellten, arbeiten heute in den modernen Industriegesellschaften immer mehr Menschen in Bürojobs. Im Jahr 2018 lag die Bürobeschäftigtenquote in Deutschland bei 36,7 %. (5)
All diese Menschen benötigen Stühle. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Büromöbelmarkt die bedeutendste Sparte des Stuhldesigns ausfüllt. (6)
Die Designer*innen von Büromobiliar versuchen, eine ergonomisch ideale und möglichst korrekte Stützung der Wirbelsäule zu erreichen, um Folgeerkrankungen des langen Sitzens zu minimieren. Weich soll ein solcher Stuhl natürlich trotzdem sein – also gibt es ihn in der gewünschten Polsterung.

Schließen wir mit dem Motto form follows Grausamkeit.
Im Jahr 1888 entwickelten Harold P. Brown, Frederick Peterson und Alfred Southwick den elektrischen Stuhl. Im August 1890 kam er zum ersten Mal zum Einsatz und die drei Männer wurden für ihr Stuhldesign gefeiert. Galt diese Erfindung doch als humane, zivilisierte und vor allem moderne Lösung, um sich Strafgefangener zu entledigen. Selbst sterben kann man also im Sitzen. Dieses makabre sowie alle vorherigen Beispiele zeigen eines deutlich: Designprozesse sind immer von äußeren Faktoren abhängig. Was zu einer bestimmten Zeit als sinnvolle Lösung betrachtet worden sein mag, erscheint uns heute möglicherweise genau entgegengesetzt. Design ist daher immer ein Spiegel der mit ihm assoziierten Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse. Manch eine*r würde sogar so weit gehen und sagen, dass sich an der Gestaltung eines Stuhls die Weltanschauung der Designer*innen und ihre Vorstellungen von einer idealen Gesellschaft ablesen lassen. (7)

Was also ist ein Stuhl? Wagen Sie doch einmal selbst den Versuch, eine Antwort auf diese Frage zu finden, und schauen Sie sich auf unserer Ausstellungsfläche um. Möglicherweise finden Sie dort Ihr persönliches Ideal?

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(1) Vgl. dazu die Definition von „Stuhl“, in: Duden online, URL:  https://www.duden.de/rechschreibung/Stuhl (23.08.2022).
(2) Vgl. May, Niels F.: Zwischen Fürstlicher Repräsentation und Adliger Statuspolitik. Das Kongresszeremoniell bei den westfälischen Friedensverhandlungen, Ostfildern 2016, S. 167.
(3) Vgl. Maibach-Nagel, Egbert: Sitzen geblieben – DKV Gesundheitsreport 2015, in: Deutsches Ärzteblatt 112, 5 (2015), S. 1.
(4) Vgl. Pressemappe des ehemaligen Museums Wagner Werk anlässlich seiner Eröffnung 2005, S. 15−16, URL: https://web.archive.org/web/20070927040834/http://www.bawagpsk.com/__Contentpool/
UeberUns/Presse/Presse__Aktuell/Pressemappe__WagnerWerk__pdf,property=Data.pdf (05.08.2022).
(5) Vgl. Hammermann, Andrea/Voigtländer, Michael: IW-Trends 3/2020. Bürobeschäftigte in Deutschland, Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung, 47. Jg., Köln 2020, S. 66.
(6) Vgl. Fiell, Charlotte/Fiell, Peter: 1000 chairs, Köln 2010, S. 16.
(7) Ebd.


Ausstellungsansicht Michael Pinsky, THE FINAL BID | © Draiflessen Collection, Mettingen/Michael Pinsky, Foto/photo: Henning Rogge
Diesen Essay schrieb Stefan Spitzer, Volontär in der Draiflessen Collection im Bereich Museumspädagogik und Vermittlung.
Es erschien im Begleitmagazin zur Ausstellung THE FINAL BID.


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