23.02.2023

Interview mit dem Künstler Michael Pinsky

Auf Facebook teilen

Dieses Interview erschien erstmals im Begleitmagazin zur Ausstellung THE FINAL BID. Im Magazin finden Sie weitere Abbildungen – es ist kostenlos im Museum erhältlich. Das Interview führten die Kuratorinnen Birte Hinrichsen (BH) und Nicole Roth (NR) mit dem Künstler Michael Pinsky (MP).


BH: Michael, wir freuen uns sehr, heute mit dir etwas tiefergehend über deine Ausstellung THE FINAL BID zu sprechen und die Themen sowie deine künstlerischen Überlegungen zur titelgebenden Arbeit etwas näher zu beleuchten. Magst du uns erzählen, wie die Idee zu dieser raumgreifenden Installation überhaupt entstanden ist?

MP: Ich habe mit dem Konzept zum Projekt THE FINAL BID begonnen, als ich im Rahmen eines Residency-Aufenthalts zusammen mit einer Gruppe Umweltpsycholog*innen in Norwegen war. (1)
Ich entwickelte zu jener Zeit etwa 15 Ideen in Reaktion auf die Gespräche mit den Psycholog*innen, die untersuchten, wie die Auseinandersetzung mit Kunst die menschliche Wahrnehmung des Klimawandels verändern kann.

Dann reduzierte ich diese Ideen auf zwei. Eine waren die POLLUTION PODS, bei denen es sich im Grunde genommen um eine dystopische Vorstellung handelt. Hier untersuche ich, wie die Luftverschmutzung unser alltägliches Leben beeinflusst und wie sehr die Gründe für Luftverschmutzung jenen für den Klimawandel ähneln (Abb. 1). Ich habe die Luftverschmutzung quasi als Hintertür für Diskussionen zum Klimawandel benutzt und dafür, wie wir die Lebens- weise von Menschen verändern könnten. Gleichzeitig habe ich aber auch versucht, mir positive Methoden zu überlegen, um einen solchen Wandel in der Lebensweise herbeizuführen. Ich begann, über Lieferketten und den Unterschied zwischen Recyceln und Wiederverwenden nachzudenken. Recycling ist, ebenso wie Net Zero, ein bisschen eine Entschuldigung. Das Prinzip hinter Net Zero erlaubt es uns, unser bisheriges Leben normal weiterzuführen und zum Beispiel Flugreisen durch das Pflanzen von Bäumen auszugleichen. Beim Recyceln ist es das Gleiche. Wenn meine Einkäufe in haufenweise recycelbarem Material verpackt ankommen, habe ich das Gefühl: „Okay, ist doch gut so.“ Aber Recyceln verbraucht Unmengen an Energie, die hauptsächlich aus fossilen Energieträgern gewonnen wird, und das führt zu einem massiven Kohlenstoffausstoß. Wir müssen also darüber nachdenken, wie wir unseren Konsum von Gütern schon an der Wurzel reduzieren können, was bedeuten würde, dass wir sie nicht mehr zu recyceln bräuchten. Entweder benutzen wir die Dinge sehr lange, weil sie gut verarbeitet sind, oder wir verwenden sie wieder, wodurch wir anstelle einer linearen Ökonomie eine Kreislaufwirtschaft fördern. Ausgehend von diesem Aspekt ist das grundlegende Konzept von THE FINAL BID entstanden. Ich wollte die Menschen durch ein Kunstwerk dazu ermutigen, Waren secondhand zu kaufen und die Dinge, von denen sie jeden Tag umgeben sind, auf den Markt zu bringen, damit sie wiederverwendet werden können. Wir sind von einer ganzen Menge an Gegenständen umgeben, die wir nicht benutzen, gleichzeitig aber werden genau diese Dinge unter Einsatz von Rohstoffen wieder von Grund auf neu produziert.
Michael Pinsky, Pollution Pods (2017), Projektzeichnung, Bleistift auf Millimeterpapier, 420 × 594 mm, (Abb. 1) | © Michael Pinsky, Courtesy the artist

BH: In einem unserer ersten Gespräche über THE FINAL BID hast du erwähnt, dass Materialien wie Holz sogar an Marktwert gewinnen, wenn sie eine Zeit lang aus der Lieferkette genommen werden. Wie bist du auf diesen Aspekt gestoßen? Und lässt sich hier eine Verbindung zu THE FINAL BID herstellen?

MP: Im Augenblick arbeite ich an einem Projekt, das sich mit der Versorgungskette von Holz in der englischen Stadt Leeds beschäftigt. Ich nehme das Holz nach dem ersten Rohschnitt aus der Lieferkette und führe es dieser später wieder zu, nachdem es ein Jahr lang gelagert wurde und als nun abgelagertes Material an Wert gewonnen hat (Abb. 2). Ich habe diese Arbeit kürzlich der Leeds Beckett University, eine Partnerin in diesem Projekt, präsentiert. Sie waren gerade erst aus ihrer alten Kunsthochschule, die voller alter Möbel war, in ein neues Gebäude umgezogen, und jedes Möbelstück in diesem Gebäude war brandneu. Ich betrachtete all diese neuen Stühle aus Kunststoff, Chrom, Stahl und Polstergewebe – alles in einem Möbelstück vereint und unglaublich schwierig zu recyceln. Die Tische bestanden alle aus Verbundstoffen mit verschiedenen Arten von Kunststoff und hatten Stahlbeine mit Kunststoffrollen. Auch diese sind unglaublich schwierig zu recyceln. Also fragte ich „Wer hat diese Entscheidung getroffen? Ihr seid in ein neues Gebäude umgezogen, was ich verstehen kann, da ihr das alte vermutlich verkauft habt, aber was ist mit den Möbeln passiert? Hat sich irgend- jemand gedacht: ‚Sollen wir diese alten Möbel nicht mitnehmen?‘“ Es gab nicht eine Person in diesem Raum, die mir sagen konnte, was mit den alten Möbeln geschehen war. Sind sie jetzt auf einer Müllhalde? Wurden sie verkauft? Die Lieferkette ist die arme Cousine der Klimawandeldebatte. Wir denken über Transport nach, wir denken über Energie nach, in einem gewissen Ausmaß denken wir auch über Wärmedämmung nach, aber wir denken nicht über die massiven Auswirkungen nach, die das Kaufen von neuen Dingen auf die Umwelt hat. Warum kaufen wir neue Stühle, wenn die alten, die vielleicht nicht mehr die schicksten sind, immer noch absolut funktionsfähig sind?
Michael Pinsky, Making A Stand (2022), Projektzeichnung, Buntstifte und Bleistift auf Papier, 420 × 594 mm, (Abb. 2) | © Michael Pinsky, Courtesy the artist
In Norwegen, um zum Anfang zurückzukehren, gab es da einen Augenblick, als ich mit diesen Umweltpsycholog*innen zusammen um einen Tisch saß. Es entbrannte eine hitzige Debatte zur Frage, welche der beiden Ideen wir nun weiter verfolgen sollten. Instinktiv wollte ich die POLLUTION PODS realisieren, die dystopische Arbeit, die ich schon erwähnt habe (Abb. 3). Zu jener Zeit war das angemessen. Aber ich wollte immer auch noch einen utopischen Ansatz verfolgen.

BH: Die Ausstellung THE FINAL BID geht dieser utopischen Idee nun nach. Wir freuen uns, dass du dich entschieden hast, diese Idee in der Draiflessen Collection zu realisieren. Aber das Tolle ist, dass Besucher*innen im November sogar die Gelegenheit haben, die Umsetzung beider Ideen – also die utopische sowie die dystopische – bei uns zu erleben, da wir die POLLUTION PODS auch für einige Wochen auf unserem Gelände zeigen können. Aber erzähle uns doch bitte noch etwas mehr zu deiner Installation THE FINAL BID.

MP: Bei THE FINAL BID denke ich über die Langlebigkeit jedes Gegenstands nach, den wir kaufen, und darüber, das Produkt zu benutzen, bis es völlig auseinanderfällt. Dies ist Teil der Gestaltung des Gegenstandes. Wir tragen Kleidungsstücke oft, bis sie ein bisschen abgetragen, ein bisschen abgenutzt aussehen, und führen sie dann der Recyclingkette zu. Textilrecycling hat jedoch eine sehr hohe CO2-Bilanz. Wenn es aber quasi in wäre, alles zu tragen, bis es abgenutzt und fadenscheinig ist, dann würde unsere Kleidung  jahrzehntelang halten. Wir sind süchtig danach, Kleidung zu kaufen. In den Vereinigten Staaten erwerben die Menschen durchschnittlich alle fünf Tage ein neues Kleidungsstück. Ich hingegen trage immer noch Kleidung, die ich vor 15 Jahren gekauft habe. Ich trage sie, bis sie völlig auseinanderfällt. Natürlich würde ich sie nicht zu einer schicken Party anziehen, aber wenn ich von zu Hause aus oder im Garten arbeite, dann ist sie in Ordnung. Ich habe eine Rangordnung von Kleidungsstücken, bei der diese immer abgetragener werden, bis sie dann gar nicht mehr zu verwenden sind. Und auch Möbel halten jahrzehntelang, vielleicht sogar jahrhundertelang. Also weshalb kaufen wir immer noch Möbel? Vielleicht müssten wir ja überhaupt keine neuen mehr kaufen?
Michael Pinsky, Pollution Pods (2017), Norwegen, Mixed-Media-Installation, ø 18,03 m (gesamt), (Abb. 3) | © Michael Pinsky, Courtesy the artist

NR: Werfen wir einen näheren Blick auf deine Kunstinstallation THE FINAL BID: Die Menschen waren aufgerufen, Stühle, die sie nicht mehr benutzen oder haben wollen, ins Museum zu bringen. Museumsbesucher*innen, aber auch Internetuser*innen können auf diese Stühle dann im Rahmen einer Auktion bieten, die im Laufe der Ausstellung stattfindet. Durch diese Gebote werden die Stühle im Ausstellungsraum in die Höhe gezogen und bilden eine bewegte Installation. Bezog sich die ursprüngliche Idee ausschließlich auf gebrauchte Stühle?

MP: Meine ursprüngliche Idee war die einer einzigen hängenden Struktur, die Objekte umfassen sollte, die jeden Monat ausgewechselt würden. Also in einem Monat Stühle, dann im nächsten Fahrräder, gefolgt von Vorhängen und Lampen. Jeden Monat sollte die gastgebende Organisation einen Aufruf für bestimmte Produkte starten, nach Art, Farbe oder Form. Die Dimensionen der Draiflessen Collection machten jedoch einen anderen Zugang nötig, mit einer ganzen Reihe dieser hängenden Strukturen, anstatt einer einzelnen. Mein erster Gedanke war, dass jede dieser hängenden Strukturen eine andere Art von Gegenstand zeigen sollte, doch nach einigen Gesprächen mit dem Draiflessen-Team beschloss ich, mich auf den Stuhl zu konzentrieren, der jeden ungewollten oder unbenutzten Gegenstand symbolisieren kann.

BH: Es ist faszinierend, welche verschiedenen Bezugspunkte der Gegenstand Stuhl bietet. Denn einerseits gibt es da den ganz normalen Gebrauch eines Stuhls – man sitzt auf ihm und kann ihn normalerweise für eine sehr lange Zeit benutzen. Trotzdem, oder vielleicht sogar genau deswegen, ist es zu einer Art Trend geworden – auch durch das Marketing großer Möbelhäuser angetrieben –, das eigene Zuhause jedes Jahr umzugestalten und jede Saison in einem anderen Stil zu dekorieren. Andererseits ist der Stuhl zugleich ein sehr ikonisches Objekt, mit dem sich Designer*innen und Künstler*innen immer wieder befasst haben. Doch welche Aspekte sind für dich in diesem Kunstprojekt oder als Künstler von besonderem Interesse? Nicht nur der Gegenstand Stuhl, sondern auch im Umgang mit Alltagsgegenständen im Allgemeinen? Denn man denkt hier natürlich an kunsthistorische Referenzen wie das Readymade oder das Objet trouvé. Zeigt THE FINAL BID deiner Ansicht nach eine alternative Möglichkeit auf, wie wir in unserem tagtäglichen Leben mit Konsumgütern umgehen könnten?

MP: Das Konzept des Readymade ist ganz wesentlich für dieses Projekt. Nehmen wir zum Beispiel Marcel Duchamps Urinal. Wenn es die Absicht des Künstlers ist, dass es sich dabei um Kunst handelt, dann handelt es sich dabei um Kunst. Durch das Umdrehen verliert das Urinal seine ursprüngliche Funktionalität. Im Museum kann man es nicht als Urinal benutzen. Man kann es lediglich als eigenständige Form betrachten, als Skulptur. Aber was geschieht, wenn man Duchamps Urinal nimmt und in einer Herrentoilette montiert? Ist es dann immer noch ein Kunstwerk oder ist es wieder bloß ein Urinal? Hier liegt die fließende und irgendwie ambivalente Bedeutung unseres Stuhls; wir entfernen ihn aus seinem alltäglichen Kontext. Er wird aufgehängt. Man kann nicht auf ihm sitzen. Man kann ihn nicht einmal anfassen. Er wird im Kontext eines Museums gezeigt. Deshalb ist auch die Draiflessen Collection so relevant. Sie ist keine zeitgenössische Kunstgalerie, sondern ein Museum, was dem Stuhl eine gewisse Gravitas verleiht. Sobald er jedoch verkauft ist, haben die Erwerber*innen die Wahl, ihn entweder als Skulptur zu zeigen oder wieder darauf zu sitzen. Der Gegenstand hat also lediglich eine zeitlich begrenzte Existenz als Skulptur. Es macht Spaß, mit dieser Ambivalenz zu spielen.

In Joseph Kosuths One and Three Chairs (1965) befindet sich an der Wand ein Stuhl, den man nicht benutzen kann. Es gibt eine Fotografie und einen Text, die beide das Wertesystem zwischen der Vermittlung des Stuhls, dem Objekt selbst und der Funktion der Sprache erkunden. Was hat größere Bedeutung? Das Wort Stuhl, der tatsächliche Stuhl oder die Fotografie des Stuhls? Der Stuhl wurde bereits eingesetzt, um fundamentale Gespräche zu konzeptueller Kunst und Semiotik zu entwickeln, er ist also ein hervorragendes Referenzobjekt. Ein Fahrrad hat nicht die gleiche Resonanz. Es changiert nicht zwischen Alltags- und Kunstwelt. Genauso wenig wie Vorhänge.
Stuhl III | © Draiflessen Collection, Mettingen, Foto: Henning Rogge

BH: Du hast bereits erwähnt, dass du dich für diese Verschiebungen der Funktion von Gegenständen interessierst, wenn sie aus ihrem vorherigen Zuhause entfernt und für eine bestimmte Zeit in ein Museum überführt werden, um dann schlussendlich durch den Auktionsprozess wieder ein neues Zuhause zu erhalten. Das Faszinierende daran ist, wie Objekte, denen nicht mehr sehr viel Liebe und Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, plötzlich einen neuen Wert erhalten. Das Museum macht die Stühle nicht aktiv wertvoller, da sie nicht aufgearbeitet werden, doch aufgrund des veränderten Standortes betrachten die Menschen sie mit anderen Augen, und plötzlich wird ein Stuhl, der nur im Keller herumstand, wieder interessant. Deshalb freue ich mich insbesondere auf die verschiedenen Formen der Interaktion mit deiner Arbeit sowie in der Ausstellung – und damit meine ich nicht nur den Akt des Bietens auf die Stühle, sondern vor allem, wie die Besucher*innen mit einzelnen Gegenständen interagieren und wie sie Fragen stellen und Gespräche führen. So können zum Beispiel wahre oder eben auch erfundene Geschichten zu den verschiedenen Stühlen erzählt werden. Die Ausstellung fügt ihren Objektbiografien somit eine neue Phase oder Etappe hinzu. Jedes Objekt durchläuft verschiedene Phasen – fast so wie Lebensabschnitte: von der Idee und Entwicklung über die Produktion und den Verkauf bis hin zur Benutzung und Entsorgung. In welchem Ausmaß spielen diese verschiedenen Phasen eine Rolle bei THE FINAL BID?

MP: Diese mit dem Stuhl in Zusammenhang stehenden Geschichten sind wichtig. Es gibt zwei verschiedene Narrative, die ich im Sinn habe. Da ist einmal die typische Entstehungsgeschichte: von den Rohmaterialien, die aus dem Boden gezogen werden, den Bäumen, die gefällt werden, bis zu den Stühlen, die entworfen, hergestellt, vermarktet, gekauft und verkauft werden. Aber jeder Stuhl hat auch eine spezifische Geschichte. Aus welchem Haus stammt er? Wie alt ist er? War es der Stuhl der Großmutter? Wurde er viele Jahre lang verwendet und dann in den Keller gestellt? Hat er kleine Kratzer und Schrammen, die eine Geschichte erzählen? Das ist der Weg vom häuslichen Kontext in ein institutionelles Szenario. Und der weitere, zukünftige Weg der Stühle: zurück in ein häusliches Umfeld oder eine andere Institution? Dies ist etwas, das wir in der Installation herausarbeiten werden. Das Erste, was man zu sehen bekommt, ist die Arbeit selbst, eine kinetische Skulptur mit Gegenständen, die sich hinauf und hinab bewegen. Die zweite Phase des Besuchs wird sich dann den widmen, die mit den Stühlen einhergehen. Das ist mir genauso wichtig. Wenn man anfängt, diese mit den Stühlen Geschichten verwobenen Erzählungen zu entdecken und darüber nachdenkt, was sie bedeuten. Die meisten Stühle, die ins Museum gebracht werden, sind vielleicht unerwünscht und ungeliebt. Die Frage lautet also: „Zu welchem Zeitpunkt wurden sie ungeliebt und warum?“ Vielleicht weil sie durch einen Stuhl ersetzt wurden, der ein bisschen moderner und damit auch ein bisschen schicker war? Oder vielleicht ist jemand gestorben und man hat ihn einfach zusammen mit etlichen anderen Möbelstücken geerbt, für deren Verkauf man einfach noch keine Zeit hatte? Mich interessieren Systeme und Superstrukturen. Für diese Installation mache ich keine Skulptur aus Stühlen; ich konzipiere einen Referenzrahmen, in dem Stühle gezeigt werden können. Ein System der Wiederverwendung. Es gibt zwar reale und virtuelle Auktionen, aber wenn sie wirklich effektiv wären, würden wir weniger neue Produkte kaufen. Das ist eine Frage von Systemen, aber auch von Kultur. Als ich ein Kind war, sammelte die Müllabfuhr die nicht mehr gebrauchten Möbel ein, stellte sie oben auf den Müllwagen und brachte sie in den Hof des Entsorgungsunternehmens, wo sie dann verkauft wurden. Das Geld, das durch diese Verkäufe eingenommen wurde, ging an die Gewerkschaft und diente als Zuschuss zu den Urlauben der Arbeiter. Auch Pfadfinder*innen gingen von Tür zu Tür und sammelten ausrangierte Dinge für ihren Trödelmarkt ein. Heute ist sowohl der Verkauf als auch der Kauf von Secondhandmöbeln schwierig, es sei denn, man besitzt einen Lieferwagen. Oft kaufen die Menschen neue Dinge nur, weil sie schon am nächsten Tag bis an die Haustür geliefert werden. Es gab auch Läden, die Secondhandwaren auf Kommission verkauft haben, sodass man tatsächlich Geld damit verdienen konnte. In Großbritannien gibt es nichts mehr davon. Während wir uns auf den ökologischen Kollaps zubewegen, wird viel darüber geredet, was wir nicht alles tun werden, aber die Realität ist, dass wir mehr konsumieren und weniger wiederverwenden. Die Systeme der Wiederverwertung, die ich in den 1970er-Jahren als selbstverständlich betrachtete, existieren nicht mehr. In Deutschland wird es ähnliche Geschichten geben, die sowohl positiv als auch negativ sind, aber ich bin mir sicher, dass die Leichtigkeit der Wiederverwertung in den vergangenen 50 Jahren in jedem Land immer mehr verloren gegangen ist. Wir müssen es den Menschen möglichst leicht machen, Gebrauchtwaren zu kaufen und auch zu verschenken oder zu verkaufen. Das bedeutet, die Waren müssen vor ihrer Türe abgeholt werden. Wie kann jemand, der alt und gebrechlich ist, seine Möbel oder sogar seine Kleidung loswerden? Niemand soll ja kilometerweit fahren müssen, denn das macht die Vorteile der Weiterverwendung gleich wieder zunichte.

NR: Ich glaube, es ist offensichtlich, dass das Kunstwerk für dich eine Möglichkeit ist, die Menschen zum Handeln zu bringen, sie zu aktivieren. Die Installation wird nur
funktionieren, wenn uns die Menschen ihre Stühle bringen und wenn sie Stühle kaufen wollen. Es geht vor allem darum, dass die Menschen involviert werden.

MP: Das stimmt, und das macht das Projekt in gewisser Weise riskant. Wenn man eine Skulptur macht, dann kann man deren Aussehen kontrollieren. Bei THE FINAL BID wissen wir nicht, welche Stühle uns angeboten werden, wir wissen also auch nicht, wie die Installation aussehen wird. So wie bei John Cages Systemen des Zufalls haben wir keine Ahnung, wie sich das Arrangement der Stühle zusammensetzen wird. Das hängt ganz allein vom Publikum ab, das die Ausstellung beliefert und sich mit ihr auseinandersetzen muss, und das ist unvorhersehbar.

Mein Ziel bei THE FINAL BID ist es, Besucher*innen dazu zu ermutigen, ihre Lebensweise zu ändern, indem sie neue Gewohnheiten etablieren. Dies ist im Moment nur symbolisch, aber die Installation zeigt, dass neue Gewohnheiten möglich sind. Man begründet neue Verhaltensmuster durch Handeln, nicht durch Reden. David Kolbs Lernmodell zufolge erfährt man die Arbeit zunächst, dann denkt man über deren Form nach, dann betrachtet man das der Arbeit zugrunde liegende System und schließlich betätigt man sich aktiv am Prozess. Erst beim Punkt der Handlung setzt das Lernen ein. Dies steht mit einem Projekt in Zusammenhang, das ich in King’s Cross kuratiere, mit dem Titel The Natural Cycle des Künstlers Roadsworth. Es ist ein Minidorf aus Straßen, die kleinen Kindern dabei helfen, Radfahren zu lernen. Es lässt sie ein Gefühl für die Straße entwickeln: wo man Vorfahrt hat oder sich zurückhält, wie man die Straße überquert, wie man rechts abbiegt, wie man links abbiegt und wie man mit Zebrastreifen umgeht. Es macht sie mit dem ganzen Vokabular der Straße vertraut, den Verkehrsschildern und Markierungen, bevor sie auf einer richtigen Straße Rad fahren. Wenn man sich bereits als Kind bestimmte Gewohnheiten aneignet, behält man diese in der Regel für den Rest seines Lebens bei. Ist man es gewohnt, als Kind jeden Tag mit dem Auto in die Schule gefahren zu werden, wird man vermutlich auch weiterhin Auto fahren. Das ist die eigene Norm. Aber wenn man mit dem Rad zur Schule fährt, dann wird man wahrscheinlich auch als erwachsene Person Fahrrad fahren. Das wird einen wesentlichen Einfluss auf unser Klima haben. The Natural Cycle etabliert damit durch Handlung schon in einem sehr jungen Alter Verhaltensmuster.
Ganz ähnlich hilft auch THE FINAL BID Kindern dabei, die Annahme zu hinterfragen, dass neu gleichzeitig gut ist, und darüber nachzudenken, ob neu nicht schlecht sein sollte und alt gut. Ich möchte, dass Kinder ihre Eltern fragen: „Warum kauft ihr neue Stühle? Die, die wir haben, schauen doch absolut in Ordnung aus. Kauft ihr nur neue Stühle, um vor euren Freund*innen anzugeben?“ Ob wir alt oder neu kaufen, ist keine praktische, sondern eine kulturelle Entscheidung.

BH: Da spielt ja auch wieder der Marketingaspekt eine große Rolle. Viele Produkte werden heutzutage als nachhaltig und grün gelabelt und gleichzeitig stellt sich die Frage, was das eigentlich bedeutet und nach welchen Kriterien die Nachhaltigkeit von Produkten beurteilt wird. Man kann sicherlich in vielen Fällen von Greenwashing sprechen, also dem Verleihen eines umweltfreundlichen und verantwortungsbewussten Images. Immerhin ist kaum jemandem bewusst, dass unser alltäglicher Konsum von Produkten den größten Anteil unseres persönlichen CO2-Fußabdrucks ausmacht – und das schließt Lebensmittel nicht mit ein, sondern nur Produkte wie Kleidung, Dekorationsartikel und technische Geräte. So gesehen ist es nicht nur wichtig, ein Bewusstsein für die ökologischen Konsequenzen unseres alltäglichen Konsums zu schaffen, sondern ebenso relevant, leicht zugängliche Informationen und Beurteilungskriterien zu etablieren, damit jede und jeder sich eine eigene Meinung bilden kann. Grundsätzlich geht es ja darum, das Richtige zu machen und sich im Klaren darüber zu sein, was das Richtige zur Schonung der Ressourcen überhaupt ist, nicht wahr?

MP: Ja, die grundlegenden Prinzipien sind Wiederverwenden und Reparieren, anstatt neu zu kaufen. Stellen wir uns vor, unser Kühlschrank geht kaputt und wir müssen ihn reparieren lassen. Das kostet allerdings einige Hundert Pfund, also denken wir uns: „Oh, das ist ein alter Kühlschrank, der ohnehin nicht sehr effizient ist. Ich kann mir einen AAA-Kühlschrank zulegen und mich dadurch total gut fühlen, was meine CO2- Bilanz angeht. Den kann ich ganz einfach über Amazon bestellen, so muss ich mich nicht mit lästigen Verkäufer*innen herumschlagen.“ Das Problem ist, dass niemand über die CO2-Kosten nachdenkt, die entstehen, wenn ein Kühlschrank von Grund auf neu hergestellt und der alte entsorgt wird. Ich vermute, dass die Kohlenstoffkosten für die Herstellung eines Kühlschranks die Energieersparnis über seine gesamte Lebenszeit hinweg übersteigen.
Ausstellungsansicht Michael Pinsky, THE FINAL BID | © Draiflessen Collection, Mettingen/Michael Pinsky, Foto/photo: Henning Rogge

BH: Das ist ein interessantes Beispiel, da ich grade vor Kurzem auf Instagram gesehen habe, dass es angeblich besser ist, einen neuen Kühlschrank zu kaufen, wenn der alte sehr alt ist. Aber woher weiß ich, dass das stimmt, und wie kann ich alle Faktoren miteinbeziehen und nicht nur den Stromverbrauch?

MP: Bei Elektroautos haben wir das gleiche Dilemma. Die Menschen, die Elektroautos kaufen, haben ein völlig reines Gewissen, aber wenn das bedeutet, ein Auto von Grund auf neu zu bauen: Wie viele Jahre muss man dieses Auto dann fahren, bis die niedrigere CO2-Bilanz in Bezug auf den Kraftstoffverbrauch die Kohlenstoffkosten seiner Produktion aufwiegen? Regierungen haben uns subventioniert, damit wir von benzinbetriebenen Autos auf Dieselfahrzeuge umsteigen, weil die einen niedrigeren CO2-Ausstoß ausweisen, nur damit wir später feststellen, dass uns Unternehmen wie Volkswagen bezüglich der Schadstoffemissionen ihrer Autos angelogen haben. Dann sind alle wieder auf Benziner umgestiegen. Alles neue Autos, was toll ist für die Autohersteller, die damit massive neue Märkte schufen. Jetzt schwenken wir auf Elektroautos um. Wieder entsorgen alle ihre alten Wagen und kaufen neue, wieder fantastisch für die Autohersteller. Die Option, das private Auto ganz abzuschaffen, wird kaum in Betracht gezogen. Denn das ist schlecht für den Markt. Das ist schlecht für den Kapitalismus. Es ist das Gleiche mit Computermonitoren und Fernsehern. Alle haben sie durch Flachbildschirme ersetzt und die dicken alten Geräte wurden entsorgt, obwohl sie noch funktionierten. Ich benutze Lautsprecher in meinem Atelier, die ich vor 35 Jahren gebraucht gekauft habe, und sie funktionieren immer noch einwandfrei. Technik ist einer dieser Bereiche, in dem die Menschen immer wieder neu kaufen müssen, weil die Software nicht mehr unterstützt wird und die Verbindungsstecker überflüssig werden. Die herstellende Industrie unterhält einen Markt, indem sie bestehende Technologie aktiv überflüssig macht, um neue Geräte zu verkaufen.

BH: Und ein Gefühl des Mangels bzw. der Notwendigkeit zu schaffen, ist offensichtlich ein großer Teil davon, oder nicht? Dieses konstante Gefühl des Bedarfs. Man braucht etwas, und vor allem braucht man etwas Neues. Und dieses Gefühl wird nicht nur durch Werbung und Trends vermittelt, sondern der Bedarf wird künstlich erzeugt, indem Produkte – vor allem technische – nach einer gewissen Zeit kaputtgehen. Du weißt sicher, wie diese eingebaute Einschränkung bezeichnet wird …

MP: Eingebaute Obsoleszenz.

BH: Ja, genau. Dadurch wird der Konsum und der Austausch von Waren ja auch auf einem konstanten Level gehalten, weil man quasi gezwungen wird, sich ein neues Gerät zu kaufen, wenn das alte eben nicht Jahrzehnte hält, sondern nach wenigen Jahren kaputtgeht. Es ist jedoch nicht einfach, Informationen zur CO2-Bilanz der Herstellung – oder zu Demontage und Recycling – von Produkten wie Möbeln zu finden. Es ist nicht so, als gäbe es gar keine, denn die Nachfrage nach solchen Informationen und Daten steigt, aber es gibt hier einen echten Mangel an zugänglichen Informationen. Wenn von Konsum gesprochen wird, werden in Studien und Erhebungen von CO2-Ausstößen vorrangig Lebensmittel und Lebenshaltungskosten betrachtet. Ich finde es interessant, dass Alltagsobjekte wie Möbel eben kaum Beachtung finden.

MP: Das liegt daran, dass es sich nicht um regelmäßige monatliche Anschaffungen handelt; die Menschen beziehen die Auswirkungen auf die Umwelt nicht in ihr Denken ein. Diese Produkte sind jedoch die niedrig hängenden Früchte in der Kohlenstoffgeschichte. Natürlich können wir unsere Ernährungsweise ändern, aber wir müssen trotzdem noch essen. Wir können versuchen, weniger zu fliegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, aber das System ist auf das Gegenteil hin ausgerichtet. Fliegen wird massiv subventioniert, weil Fluglinien keine Steuern auf Treibstoff zahlen, und viele Orte sind ohne Auto nicht erreichbar, weil der öffentliche Verkehr so schlecht ausgebaut ist. Wenn wir unsere alten Möbel behalten oder unsere Küche nicht umgestalten, hat das jedoch im Prinzip keine Auswirkungen auf unsere Lebensqualität. Wir haben es in der Hand. Wir können secondhand kaufen. Wir können Dinge reparieren, anstatt sie wegzuwerfen. Das lässt sich einfach umsetzen und verringert unsere CO2-Bilanz ganz erheblich.

NR: Und was ist mit Kunst? Bist du überzeugt, dass Kunstwerke Menschen dazu bringen können, ihre Gewohnheiten zu ändern?

MP: Innerhalb meines Berufes als Künstler tue ich, was ich kann. Ich habe vielleicht nicht so viel Einfluss wie Politiker*innen oder CEOs großer Produktionsunternehmen, aber meine Kunst kann symbolisch Prinzipien aufzeigen. Kunst wird in einem privilegierten Rahmen gezeigt. Menschen gehen in Galerien und Museen, um zu denken und zu reflektieren. Als Künstler*in bekommst du sie nicht auf der Straße zu fassen, du bist nicht in einer Zeitung voller Anzeigen vertreten, du tauchst in keinem Twitter-Feed auf. Die Öffnung des Geistes, die in einer Galerie oder einem Museum stattfindet, ist ein einzigartiger Augenblick, zu dem Künstler*innen hingegen Zugang haben. Während dieser reflektierenden Momente können die Menschen Informationen ernsthaft und auf kreative Art und Weise aufnehmen und überdenken, wie sie ihr Leben leben. Künstler*innen spielen also eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, die Kultur rund um das Konsumdenken zu verändern, da unsere Währung unsere Kultur ist.

BH: Das ist ein sehr wichtiger Punkt und eine spannende Analogie. Aus kuratorischer Sicht war es von Anfang an unser Ansatz, eine thematische Fragestellung für die Ausstellung zu verfolgen. Die Draiflessen Collection beschäftigt sich derzeit sehr intensiv mit Fragen der Nachhaltigkeit und damit auch mit dem Ideal eines grünen Museums. Die Themen, mit denen du dich in deiner künstlerischen Praxis beschäftigst, passen natürlich sehr gut dazu. Möchtest du uns mehr darüber erzählen, welche Themen und Fragen dir wichtig sind und was dich als Künstler interessiert?

MP: Bereits als Kind habe ich mich sehr für die Umwelt interessiert, schon bevor ich irgendetwas über Klimawandel wusste. Als ich etwa acht Jahre alt war, fand im lokalen Museum eine Ausstellung statt, die von der schottischen Atomkraftbehörde gesponsert wurde. Es war eine pseudowissenschaftliche Schau über Atomreaktoren, die zeigen sollte, wie gut diese seien und wie sie uns unabhängige Energie liefern würden. Schon in diesem Alter war ich entschieden gegen Atomkraft. Es gab damals keine nachhaltigen Lösungen für die Abfallentsorgung, und es gibt sie noch immer nicht. Also besuchte ich diese Ausstellung mit meinen Freund*innen und stellte den Guides lauter schwierige Fragen. Wir müssen damals wohl ziemlich altklug gewirkt haben und schließlich wurden wir hinausgeworfen. Wir sind jedoch immer wieder zurückgekommen, bis sie uns gar nicht mehr in die Ausstellung hineingelassen haben. Bereits als Kind war mir völlig bewusst, dass diese Präsentation gezieltes Greenwashing betrieb und versuchte, Atomkraft zu verharmlosen. Seitdem habe ich mit diesem Aktivismus weitergemacht. Während meines Kunststudiums waren meine Arbeiten sehr stark von der britischen Land-Art geprägt. Ich wurde inspiriert von Künstler*innen wie Richard Long, Andy Goldsworthy, Kate Whiteford und David Nash. Der Fokus meiner Arbeiten lag auf dem Land. Aber als ich nach London zog, bekam ich allmählich das Gefühl, dass diese Betrachtung in den Bereich romantischer Bedeutungslosigkeit gehört. Das alltägliche Umfeld, in dem die meisten Menschen leben, ist nicht ländlich, sondern städtisch.

Ich fand es bizarr, dass die Menschen in London überall mit dem Auto hinfuhren. Das war zu einer Zeit, als die konservative Partei die Infrastruktur des öffentlichen Verkehrs zerstört hatte. Also begann ich, das Zentrum von London zu kartieren, indem ich die Zeit aufzeichnete, die es brauchte, um mit dem Auto zu fahren, mit dem Rad zu fahren, zu Fuß zu gehen, den Bus und die U-Bahn zu nehmen. Ich entwarf zeitliche Karten, in denen ich die verschiedenen Verkehrsmittel miteinander verglich, um aufzuzeigen, wie lange es dauert, mit dem Auto zu fahren und wie lächerlich das ist (Abb. 4). Ich zeigte diese hybriden Karten bzw. Drucke in einer Galerie im The-Economist-Gebäude im Zentrum Londons. Die Ausstellung führte zu einem lebhaften Diskurs über die Frage, warum die bestehenden Kommunikationssysteme die Benutzung von Auto und Tube bewarben, anstatt das Zu-Fuß-Gehen und das Radfahren. Im Zentrum von London braucht man mit der U-Bahn oft länger als zu Fuß, allein weil man weit unter die Erde muss, um zum Bahnsteig zu gelangen. Um die richtigen Entscheidungen treffen zu können, müssen wir über die relevanten Informationen verfügen. Zu dieser Zeit damals gab es keine Daten darüber, wie lange man von A nach B braucht. Es gab einfach nur herkömmliche Karten in einem Buch, den London-A−Z-Straßenatlas, oder den schematischen Netzplan der Tube, die beide sowohl Zeit als auch Entfernung außer Acht lassen. Natürlich ist der Tube-Plan von Harry Beck ein fantastisches Designobjekt und einfach zu benutzen, aber er ist zugleich ein mächtiges und irreführendes Marketinginstrument.

Ich habe untersucht, ob wir mit einem neuen, zeitbasierten Datenfluss die Art und Weise verändern könnten, wie Menschen sich verhalten. Heute haben wir GPS auf unseren Handys, sodass wir diese Vergleiche sehr einfach anstellen können. Aber damals, 1998, war das echt kompliziert. Selbst mit GPS haben Google und Apple Maps das Fahrrad erst seit Kurzem als Fortbewegungsmittel aufgenommen, und diese Option findet sich so weit hinter dem Auto, den öffentlichen Verkehrsmitteln und dem Taxi, dass man nach links scrollen muss, um sie zu sehen. Warum ist das Auto immer die erste Option, wenn es doch so eine dysfunktionale Möglichkeit ist, um sich in der Stadt fortzubewegen? Wäre es nicht besser, die Optionen nach ihrem Zeitaufwand aufzulisten, mit der schnellsten Option an erster Stelle? In der Stadt würde das Rad alle anderen Möglichkeiten weit hinter sich lassen.
Michael Pinsky, In Transit (Bike Map) (2000), Vinyl auf Glas, 180 × 100 cm, (Abb. 4) | © Michael Pinsky, Courtesy the artist

BH: Absolut. Ein spannender Gedanke – vor allem als Radfahrer*in.

MP: Das GPS-System zeigt dir nur, wie lange du von A nach B brauchst, aber nicht, wie lange man braucht, um zu parken. Bei all den Daten, die sie in der Cloud sammeln, wäre diese Information sehr einfach zur Verfügung zu stellen.

BH: Ich finde es interessant, dass die Zeit der Parkplatzsuche nicht wirklich präsent ist, obwohl es sogar statistische Erhebungen dazu gibt. In Deutschland verbringen Autofahrer*innen durchschnittlich 41 Stunden pro Jahr mit der Suche nach einem Parkplatz – das sind fast zwei Tage! (2)

MP: Das zeigt wieder, wie all diese Dinge miteinander verbunden sind. Die Daten existieren, aber sie werden manipuliert oder verschleiert, um den Konsum gezielt anzuregen. Wir brauchen also die Kunst, um Gegennarrative zu bieten. Wir leben in einer neoliberalen Ökonomie, die Konsum fördert. Regierungen versuchen stets, ihr Bruttoinlandsprodukt zu erhöhen. Die Kunst bietet die seltene Gelegenheit, dieser politischen Kraft entgegenzusteuern, da uns das Narrativ, dass Wirtschaftswachstum gut ist, jeden Tag verkauft wird. Regierungen werden Wachstumsrücknahme nicht fördern und Hersteller*innen werden das natürlich nicht unterstützen, da sie es als wirtschaftlichen Selbstmord betrachten. Wer wird es also tun? Institutionen wie Museen müssen Künstler*innen einladen, die diese aktuelle „Konsumiere, bis du dich selbst auffrisst“-Krise, in der wir uns befinden, infrage stellen.

BH: Und da sind wir wieder bei der Veränderung menschlicher Verhaltensweisen und der Notwendigkeit eines nachhaltigen Lebensstils angekommen. Denn momentan verbrauchen die Deutschen die Ressourcen von fast drei Erden im Weltmaßstab. Jede und jeder sieht auf einen Blick, dass das zu viel ist: Wir haben nur eine Erde. So simpel ist das. (3)
Offensichtlich ist ein partizipatorischer Aspekt ein wichtiger Teil deiner künstlerischen Praxis. Anstatt für deine Kunstwerke einfach nur Daten zu recherchieren, verfolgst du einen stärker kollektiv geprägten Ansatz der Zusammenarbeit mit Menschen. Du wirfst vielleicht eine Frage auf, die ein Kunstprojekt rahmt, aber die Menschen produzieren die Daten, während sie innerhalb deines Bezugsrahmens interagieren. Es ist also eher so, dass gemeinsam ein neues Narrativ geschaffen wird, richtig?

MP: So ist es. Menschen sind Bestandteile dieses Narrativs. Ob ich die Dinge verändern kann oder nicht, ist eine andere Sache – man kann es nur versuchen. Einige der Besucher*innen meiner Ausstellung beim Economist erzählten mir damals, dass sie anders nach Hause fahren würden, als sie gekommen waren. Das markiert eine Verhaltensänderung, etwas, das in meiner Arbeit eine wirklich wichtige Rolle spielt: Verhaltensänderung durch Handeln. Zunächst muss man die Wahrnehmung der Menschen verändern; dann müssen sie ihr Verhalten ändern, indem sie ihre Handlungen ändern. Dies ist eines der Ziele meiner Arbeit. Aber natürlich möchte ich niemals die ästhetischen Qualitäten meines Schaffens untergraben. Ich bewege mich auf dem schmalen Grat zwischen etwas, das visuell fesselnd und im Kanon der Kunstgeschichte von Bedeutung ist, und etwas, das das Verhalten von Menschen ändert. Die Arbeit läuft ganz leicht Gefahr, von diesem Grat abzurutschen und zu reiner Propaganda zu werden. Eine starke visuelle Sensibilität beizubehalten, ist wesentlich für die Erzählung des Kunstwerks. Es ist das starke visuelle Moment, das die Menschen in erster Linie anzieht. Es lockt Menschen an. Erst danach enthüllt sich das Narrativ.
Ausstellungsansicht Michael Pinsky, THE FINAL BID | © Draiflessen Collection, Mettingen/Michael Pinsky, Foto/photo: Henning Rogge

BH: Zum Abschluss unseres Gesprächs möchte ich dir eine Frage stellen, die vielleicht etwas ketzerisch ist: Was ist denn eigentlich das Kunstwerk in dieser Ausstellung? Ist es die Idee oder ist es die Installation? Und was ist mit der Ergänzungen durch die Besucher*innen?

MP: Durch die Einbettung der Installation in den musealen Raum artikuliert sie sich ganz eindeutig als Kunstwerk. Diese Frage ist schwieriger zu beantworten, wenn sich meine Installationen im öffentlichen Raum befinden, wo der Kontext mehrdeutiger ist. Partizipative Kunst und relationale Ästhetik sind vertraute Begriffe für Menschen im Kunstbetrieb, aber nicht für die breite Öffentlichkeit. Der Weg zum Ausstellungsraum in der Draiflessen Collection – durch den Garten, die Rampe hinunter, durch den Shop, die Treppe hinauf – bildet jedoch eine weitläufige Schwelle, die den Besucher*innen mitteilt:
„Du wirst ein Kunstwerk sehen.“ Wenn sie also diese Stufen hinaufgehen, sind sie schon darauf vorbereitet, Kunst zu erleben, selbst wenn sie dabei ihren alten Stuhl sehen, der noch ein paar Wochen zuvor in ihrem Keller stand. Auch hier geht es wieder um Duchamp, die Rahmung des Objekts und die Absicht des Künstlers. Ich habe keinen Zweifel daran, dass es sich hier um ein Kunstwerk handelt. Was THE FINAL BID für mich so faszinierend macht, sind das Engagement und die erzählerischen Aspekte der Arbeit, die über ihre physische Manifestation hinausgehen. Einfach nur einen Haufen Stühle an Drähten aufzuhängen, ist für mich nicht interessant. Es ist alles andere, was das Kunstwerk spannend macht.

_______________________________________________________________
(1) Website Climart, URL: https://www.climart.info/ (30.08.2022).
(2) Nier, Hedda: So lange sind die Deutschen auf Parkplatzsuche, in: Statista (02.08.2017), URL: https://de.statista.com/ infografik/10532/so-lange-sind-die-deutschen-auf-parkplatzsuche/ (18.08.2022).
(3) UNICEF-Bericht: Deutsche verbrauchen fast drei Erden, in: Tagesschau (24.05.2022), URL: https://www.tagesschau. de/ausland/unicef-ressourcen-verbrauch-101.html (18.08.2022).
Dieses Interview führten die Kuratorinnen Birte Hinrichsen und Nicole Roth vor der Eröffnung der Ausstellung mit dem Künstler Michael Pinsky.
Es erschien im Begleitmagazin zur Ausstellung THE FINAL BID.

Kommentare

Ihr Kommentar