25.11.2024

SPRACHE/TEXT/BILD in der Draiflessen Collection

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Wieder einmal war ich auf dem Weg zur Draiflessen Collection. Dieses Museum in dem kleinen deutschen Ort Mettingen mit seinen hochkarätigen Ausstellungen hat mich immer schon begeistert. Nachdem ich bereits über die Ausstellungen GLAUBE und DIE KUNST DER WIEDERHOLUNG geschrieben hatte, war ich nun zur Draiflessen Collection für die Eröffnung der Ausstellung SPRACHE/TEXT/BILD unterwegs.
Der Titel weckte mein Interesse, und die Tatsache, dass er eher generisch klang, verstärkte die Vorfreude sogar noch. Was würde wohl in einer Schau mit einem Titel, der aus diesen drei Schlagworten besteht, gezeigt werden? Und vor allem: Wie würden diese Begriffe die 900 Quadratmeter Ausstellungsfläche des Museums verändern? Mit solchen Überlegungen im Kopf machte ich mich an einem Sonntagmorgen zur Eröffnung von SPRACHE/TEXT/BILD auf. 
Es war ein sonniger Herbstmorgen, und das Auto rollte durch die üppige Landschaft. Es fühlt sich immer wunderbar an, an Orte zurückzukehren, die man in der Vergangenheit gerne besucht hat. Als der Wagen vor der Draiflessen Collection hielt, verspürte ich eine Art herzerwärmender Vertrautheit beim Anblick der Umgebung. An der Eingangstür begrüßt zu werden, trug noch mehr zu dem Gefühl des Willkommenseins im Museum bei. 
Kurz darauf war es an der Zeit, durch die Ausstellung zu schlendern und zu sehen, wie die Kurator*innen die Thematik von Sprache, Text und Bild aufbereitet hatten. 


Ausstellungsansicht SPRACHE/TEXT/BILD | © Draiflessen Collection, Foto/photo: Felix Krebs

SPRACHE/TEXT/BILD in der Draiflessen Collection

Ich bin kein Kunstkritiker; ich bin ein Kunstgänger. Ich stelle das immer klar, denn ich will meine Erfahrungen teilen, die ich beim Besuch von Kunstinstitutionen gemacht habe. Das Ziel meiner Artikel zur Kunst ist, meine Begeisterung zu vermitteln und die Leser*innen meines Blogs zu ermuntern, so viel Kunst wie möglich anzuschauen. Kurzum: Das Ziel besteht darin, zu teilen und zu inspirieren. 
Apropos Inspiration: Die Ausstellung SPRACHE/TEXT/BILD präsentiert 13 Künstler*innen – oder genauer gesagt 12+1. Sie werden sofort verstehen, was ich damit meine, doch vorher möchte ich die Namen der Teilnehmer*innen auflisten. 
Im Main Space der Draiflessen Collection werden Sie namentlich Werke von (in alphabetischer Reihenfolge) John Baldessari ,Maria Bartuszová, Alice Bidault, Alejandro Cesarco, Ayşe Erkmen, Nadine Fecht, Gary Hill, Janice Kerbel, Gabriel Kladek, National AIDS Memorial Quilt, Gordon Parks, Markus Vater und Gillian Wearing sehen. 
Es liegt nahe, dass nicht jedes Kunstwerk in diesem Beitrag berücksichtigt werden kann. Außerdem möchte ich Sie dazu animieren, diese Arbeiten auf eigene Faust zu entdecken und zwar möglichst mit gleichmäßigem Tempo. Doch im Folgenden werde Sie sehen, was mir besonders aufgefallen ist – dazu erhalten Sie begleitende Informationen.


Ausstellungsansicht SPRACHE/TEXT/BILD | © Draiflessen Collection, Foto/photo: Felix Krebs

Maria Bartuszovás Skulpturen und Gabriel Kladeks Fotos

Das erste Kunstwerk, das man sieht, wenn man über die Treppe in den Main Space gelangt, stammt von Maria Bartuszová und Gabriel Kladek. Kladek, der Kunsthistoriker und Fotograf ist, organisierte (1976 und 1983) in einer Grundschule in der Slowakei Veranstaltungen für blinde und sehbehinderte Kinder, bei denen er diese Bartuszovás Skulpturen berühren ließ. Die Künstlerin hat für ihre Arbeiten eine Vielzahl von Materialien (Gips, Bronze, Aluminium) verwendet, die Objekte bestehen aus runden und scharfkantigen Formen. 
Obwohl die Kinder die Skulpturen kaum (oder gar nicht) sehen konnten, konnten sie sie fühlen. Diese Momente hielt Kladek mit seiner Kamera fest, dessen Projekt deutlich macht, dass Kunst für jede*n zugänglich sein sollte. 


Maria Bartuszová, Gabriel Kladek | © Draiflessen Collection, Foto/photo: Felix Krebs

Das berührende Projekt des National Aids Memorial Quilt

Von der AIDS-Epidemie ist seit den 1980er-Jahren jedes Land auf der Welt betroffen. Mehr als 35 Millionen Menschen sind bisher an AIDS gestorben, und die Blöcke dieses riesigen Quilts gehörten zu den von den Besucher*innen am meisten geschätzten Exponaten bei der Eröffnung. 
Jeder der drei ausgestellten Blöcke besteht aus acht textilen Teilen, die von Einzelpersonen oder Gemeinschaften handgefertigt wurden. Was den AIDS Memorial Quilt so einzigartig macht, ist, dass in ihm verschiedene Muster und Techniken zum Einsatz kommen. Verschiedenartige Symbole wie etwa Herzen oder Buchstaben sind auf diesen Blöcken zu sehen, die in Erinnerung an die an AIDS verstorbenen Menschen entstanden sind. Die edle Idee hinter diesem Projekt bestand darin, den Personen, die Opfer dieser Krankheit geworden sind, Namen, Gesichter, Geschichten und Gefühle zu verleihen.
Der National AIDS Memorial Quilt verfolgt das Ziel, den Menschen, die aufgrund ihrer AIDS-Erkrankung isoliert waren, eine Stimme zu geben und die aktuell an der Krankheit leidenden Personen zu ermutigen, öffentlich darüber zu sprechen. AIDS ist kein Stigma, und diese Situation erfordert Information und Solidarität. Bis heute sind mehr als 50.000 textile Einzelfelder entstanden. 


National AIDS Memorial Quilt | © Draiflessen Collection, Foto/photo: Felix Krebs

Fünf ikonische Fotos von Gordon Parks

Ebenso berührend ist die kurze, aber aufschlussreiche Präsentation von fünf Fotografien, die von Gordon Parks aufgenommen wurden. Parks ist einer meiner absoluten Lieblingsfotografen wegen seines dokumentarischen Stils und seines Anliegens, den in den USA vorherrschenden Rassismus der 1950er-Jahre aufzudecken. 
1956 beauftragte das Magazin Life Gordon Parks aufzuzeigen, wie sich das Leben in den Südstaaten der USA gestaltete. Rassismus war allgegenwärtig – und das vor weniger als 70 Jahren. Es herrschte eine grausame Rassentrennung: Schwarze Kinder durften nicht dieselben Schulen wie weiße Kinder besuchen, doch die Grenzen im Alltag waren noch strikter. Menschen mit schwarzer Hautfarbe konnten kein Eis neben Weißen kaufen, hatten nicht dieselben Zugänge zu Gebäuden und so weiter. Was wir in den Fotos sehen, ist eine Dokumentation des täglichen Kampfs der schwarzen Bevölkerung. 
Die Forderung nach Gleichberechtigung (und es ist unglaublich, dass diese noch immer nicht erreicht wurde) ist allgegenwärtig in Parks Fotografie. Und das Gleiche gilt für seine Hoffnung und Melancholie beim Fotografieren.


Gordon Parks | © Draiflessen Collection, Foto/photo: Felix Krebs

Beeindruckend: Alejandro Cesarcos Index (An Orphan)

Sechs Digitaldrucke sind an einer Wand in der Draiflessen Collection zu sehen, und jeder sieht aus wie ein Register – ein Register für ein Buch. Doch es gibt kein Buch, sondern nur dieses Register, das voll von Stichworten, Titeln und Begriffen ist.
Als Autor hat mich Cesarcos Arbeit sehr beeindruckt. Index (An Orphan) versucht, eine Geschichte ohne eine Geschichte zu erzählen. Vielleicht kann man das als Handlungsstrang verstehen, den man selbst erarbeiten muss. Obwohl man einige Begriffe erkennt, bleiben andere selbstreferenziell. Und genau darin liegen die Schönheit und das Geheimnisvolle in Cesarcos Kunstwerk. Vermutlich gibt es keinen Anfang, kein Ende oder sogar keine Geschichte. Doch in diesem bezaubernden Kunstwerk geht es um eine Geschichte, die entweder verborgen ist oder nie geschrieben wurde.


Alejandro Cesarco | © Draiflessen Collection, Foto/photo: Felix Krebs

Gary Hills in sich geschlossenes Universum ist voller Fragen

Gary Hill untersucht seit mehr als einem halben Jahrhundert, was Sprache ist. In seinen Videos versucht er immer, Zusammenhänge zwischen Klängen, Wörtern und Bildern zu finden. Sprache/Text/Bild präsentiert drei Videoarbeiten, die sich mit diesem Sujet auseinandersetzen. Durch die Kombination von Wörtern und Klängen entstehen visuelle Landschaften und Zeiträume, von denen sich die Betrachter*innen womöglich überwältigt fühlen mögen. Die uralten Fragen der Menschheit bleiben jedoch immer bestehen: Wie nehmen wir Sprache wahr? Wie gestalten wir sie? Und schließlich: Was ist Sprache eigentlich?


Gary Hill | © Draiflessen Collection, Foto/photo: Felix Krebs

Gillian Wearings Fotostatements

Eines der interessantesten Exponate in der Draiflessen Collection ist die Fotoserie von Gillian Wearing. Zwischen 1992 und 1993 lief Wearing durch die Straßen von London und begann, die Leute anzusprechen. Sie händigte ihnen dann ein weißes Blatt Papier aus und bat sie, das niederzuschreiben, was ihnen gerade in den Sinn kam. Es gab keine Anleitung und auch keine Manipulation; es konnte einfach alles sein. 
Die Ergebnisse übertrafen alles bisher Dagewesene. Sie fotografierte jede Person mit dem beschriebenen Blatt Papier in der Hand und schuf so eine Reihe fantastischer Bilder. Bemerkenswert dabei ist, dass die Menschen unterschiedliche gesellschaftliche Hintergründe, Lebensalter, Hautfarben und Geschlechter aufweisen. Wearings Folge beschäftigt sich mit Gefühlen und Selbstwahrnehmung sowie damit, wie häufig wir etwas verbergen, sogar vor uns selbst.


Gillian Wearing | © Draiflessen Collection, Foto/photo: Felix Krebs

Das eindrucksvolle Wandbild von Ayşe Erkmen

An der rückwärtigen Wand des Main Space ist ein eindrucksvolles Wandbild von Ayşe Erkmen zu sehen. Auf den ersten Blick wirkt Typed Types eher wie ein Code und weniger wie ein Kunstwerk. Man muss es immer wieder genau betrachten, um seine Bedeutung zu erfassen. 
Was wie ein Code erscheint, sind in Wirklichkeit Buchstaben in verschiedenen Schrifttypen. Und diese Buchstaben ergeben zusammen einen altbekannten Blindtext: „The quick brown fox jumps over the lazy dog.“ („Der schnelle braune Fuchs springt über den faulen Hund.“) Der Satz hat eine verborgene Bedeutung – tatsächlich geht die Bedeutung darüber hinaus. Es geht mehr um die Typografie und weniger um den Sinngehalt des Satzes. Der Satz muss jeden Buchstaben des Alphabets beinhalten, weil die Leute sehen wollen, wie ein Text aussieht, verwendet man einen speziellen Schrifttyp. Erkmens Kunstwerk beschäftigt sich damit, wie wir Sprache erfassen.
 
Ayşe Erkmen | © Draiflessen Collection, Foto/photo: Felix Krebs

Objects of Significance von Marcus Vater

Abgesehen von Cesarco hat mich – als Autor – auch Markus Vaters Arbeit fasziniert. Die Folge Objects of Significance ist wahrscheinlich das spielerischste Exponat in Sprache/Text/Bild. Vater kombiniert häufig Fotografie mit dem geschriebenen Wort: Er schießt Fotos und fügt ihnen dann einen Text zu. Seine Aufmerksamkeit gilt gewöhnlichen Dingen und Momenten, welche die meisten Menschen übersehen.
 Die Texte stehen nicht immer in Verbindung zu dem Sujet, das er fotografiert. Trotzdem ist seine Herangehensweise immer spielerisch und originell. Mitunter mag der Text nicht vollends das Bild widerspiegeln, doch das Ergebnis ist bezaubernd. Wenn man es als Gesamtkunstwerk betrachtet, dann gewinnt man ein tieferes Verständnis von Vaters Standpunkt und Gedanken. Der Künstler scheint sich nicht mit dem Sichtbaren auseinanderzusetzen: Was ihn interessiert, ist auch das, was außerhalb des Sichtbaren bleibt, und alles, was zur Innenwelt gehört.


Markus Vater | © Draiflessen Collection, Foto/photo: Felix Krebs

Schlussgedanken

Sprache, Bilder und Texte umgeben uns täglich. Sie bestimmen uns, sie versichern oder werfen Fragen auf, und gleichzeitig helfen sie uns zu kommunizieren. Oder sie halten uns von anderen fern und schließen uns in unserem Mikrokosmos ein. Sie übermitteln Botschaften, machen Aussagen und sie helfen uns, Probleme zu lösen oder sie schaffen neue.
Die Rolle des Publikums ist für eine zukunftsweisende Gesellschaft von entscheidender Bedeutung. Diese drei grundlegenden Elemente prägen uns in hohem Maß. Diese Elemente werfen sogar noch mehr Fragen auf über die Beschränkungen abgeschotteter Gemeinschaften und darüber, was wir hören und sehen wollen. Die Ausstellung Sprache/Text/Bild unternimmt das Wagnis, unsere Wahrnehmung und unser Verständnis von der uns umgebenden Welt zu hinterfragen.
Die 13 Künstler*innen (oder nochmals: 12+1 oder sogar 12+eine ganze Menge) umschreiben, wie wir Sprache, Texte und Bilder auf einzigartige Weise begreifen. Wieder einmal war der Besuch der Draiflessen Collection ein faszinierendes Erlebnis, das meine Erwartungen übertroffen hat. Es war nicht der Autor in mir, sondern auch das Individuum und Mitglied einer sich ständig verändernden Gesellschaft, die  getriggert wurden, mich selbst und meinen Gebrauch von Sprache, Text und Bildern zu hinterfragen. Und dafür bin ich unbeschreiblich dankbar.

George Pavlopoulos, Autor dieses Beitrags, veröffentlichte drei Romane: 300 Grad Kelvin am Nachmittag (2007), Dampf (2011) und Die Grenze und die Welle (2014). Zuletzt erschien von ihm der Band mit Kurzgeschichten Von Zuhause so fern (2020). In seinem Reiseblog Letters to Barbara präsentiert er Texte zu und Fotos von den Orten und Gegenden, die er bereist.

Dieser Artikel wurde zuerst auf Georgos Pavlopoulos' Reiseblog Letters to Barbara veröffentlicht
(
https://letterstobarbara.com)

Übersetzung aus dem Englischen: Eva Dewes

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