12.12.2024

„Quäss humpisch“
(„Sprich die Geheimsprache“)

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Diese Aufforderung zur Benutzung der Geheimsprache westfälischer Wanderhändler auf einem Bleiglasfenster aus dem Mettinger Haus Telsemeyer stellt einen der wenigen bekannten Sätze dar, die tatsächlich aus dem Mund eines Mitglieds dieser auch als Tüötten bezeichneten Kaufleute stammen könnte. 


„Humpisch-Fenster" aus dem Gewölbe des Hauses Telsemeyer | © Draiflessen Collection, photo/foto: Henning Rogge
Das Fenster ist Teil der Ausstellung Cunda, Knös und Knaspelhutsche. Auf der Suche nach dem Unternehmenswortschatz. Diese widmet sich Ausdrücken der Unternehmenssprache aus der Vorgeschichte von C&A im Wanderhandel, dessen Blütezeit ins 18. Jahrhundert fällt. Sie führt aber auch weiter bis zu sprachlichen Codes und Konventionen des Unternehmens im 20. Jahrhundert. Das Fenster wurde etwa 1962 von Eugen Teeken bemalt und enthält neben acht Illustrationen zentraler Ausdrücke der Geheimsprache auch einige Sätze, die zwar mit einer Ausnahme nicht als authentische Zeugnisse aus der Zeit des Tüöttenhandels gelten können, aber dennoch Aufschluss über die Lebenswelt der Wanderhändler geben. 
Die Fenster- und Wandbemalungen im Haus Telsemeyer wurden im Rahmen der Errichtung des dortigen Tüöttenmuseums in Auftrag gegeben. Initiator des Museums war Franz Brenninkmeijer (1890–1972), der damit an die Herkunft vieler Mettinger Bürger*innen aus dem Wanderhandel erinnern wollte. 


Drei Sätze in der Geheimsprache der Tüötten im Bleiglasfenster des Hauses Telsemeyer | © Draiflessen Collection, photo/Foto Henning Rogge
Die ersten Worte auf der als altes Pergament stilisierten Fensterbemalung lauten programmatisch „Quäss humpisch“, was so viel heißt wie „Sprich die Geheimsprache“. Das in der deutschen Umgangssprache geläufige Verb „quasseln“ gibt auch Leser*innen ohne geheimsprachliche Vorkenntnisse einen Ansatz zur Erschließung des Inhalts dieser Aufforderung. Die Bezeichnung Humpisch stellt neben Bargunsch den von den Tüötten selbst für ihre Sprache verwendeten Namen dar. 
Der Satz ist bereits von Louis Stüve (1858–1935), einem frühen Kenner der Geheimsprache, etwa durch Aufnahme in einem ersten Aufsatz von 1908 und in seiner 1923 veröffentlichten Liste mit Ausdrücken und Sätzen des Humpischen als authentisch eingestuft worden. Der Recker Heimatforscher griff in seiner Veröffentlichung auf eine heute leider verschollene Wortliste zurück, die von seinen Brüdern Heinrich und Gerhard Stüve angelegt worden war. 


Typoskript der 1923 von Louis Stüve veröffentlichten Monographie über die Geheimsprache der Tüötten | © Draiflessen Collection, photo/Foto Fred Dott
Der folgende Satz, „De Tüötten strüchelden um Buchte te quinten“, beschreibt das für den Wanderhandel gültige Prinzip der Wirtschaftlichkeit, denn als hochdeutsche Übersetzung wird der Satz, „Die Tüötten reisten umher um Geld zu verdienen“, auf der gegenüberliegenden Fensterseite angeführt. Dem Ausdruck „Buchte“ oder „Büchte“ für großes Geld oder Geschäftsgeld wurde offensichtlich eine so große Bedeutung beigemessen, dass er unter die acht in den oberen Fensterhälften illustrierten Begriffe aufgenommen wurde. 


Illustration des geheimsprachlichen Ausdrucks „Buchte" für „Geschäftsgeld" im Bleiglasfenster des Hauses Telsemeyer | © Draiflessen Collection, photo/Foto Henning Rogge
Das Verb „strücheln“ kann etwas konkreter auch mit „hausieren“ übersetzt werden. Es taucht ebenfalls in dem Wort „Strücheltüötte“ auf und legt dort das Augenmerk auf die Geschäftsstrategie der Wanderhändler, welche im Haustürverkauf bestand. 
Als authentische Äußerung eines Tüötten kann der Satz derweil wohl nicht gelten. Er wurde ebenso wie die folgenden Sätze vermutlich erst formuliert, nachdem die Geheimsprache ihre Funktion als Kommunikationsmittel bereits verloren hatte. Unter Rückgriff auf noch bekannte Wörter der Tüöttensprache wird die Lebenswelt der Wanderhändler beschrieben. Die Vermutung liegt nahe, dass die Formulierung dieses Satzes und der folgenden Sätze auf den Gründer des Tüöttenmuseums Franz Brenninkmeijer selbst zurückgeht. Unabhängig davon spricht für die „späte“ Entstehung der Sätze die Tatsache, dass sie in keiner der einschlägigen früheren Quellen wie etwa bei Louis Stüve genannt werden.


Illustration des geheimsprachlichen Ausdrucks „Külter" für „Bett" im Bleiglasfenster des Hauses Telsemeyer | © Draiflessen Collection, photo/Foto Henning Rogge
Etwas rätselhafter erscheint der Satz „Mit Strücheln un Klinken lichten wöt menige fitze Külter versoimt“ oder „Mit Reisen und Türen aufmachen wurde manches gute Bett verkauft“. Warum wird in diesem Satz auf den Verkauf von Betten hingewiesen? Schließlich haben die Wanderhändler zwar Stoffe, aber mit Sicherheit keine ganzen Betten auf ihren Wanderungen durch die Gegend getragen. Die Aufnahme eines Bettes in die Abbildungen von symbolträchtigen Ausdrücken der Tüöttensprache in der oberen Fensterhälfte könnte derweil auf die Wichtigkeit einer sicheren Bleibe für die Nacht hinweisen, was für die Tüötten auf ihren Geschäftsreisen von nicht zu unterschätzender Bedeutung gewesen sein muss. 


Illustration des geheimsprachlichen Ausdrucks „Tispel" für „Wirtshaus" im Bleiglasfenster des Hauses Telsemeyer | © Draiflessen Collection, photo/Foto Henning Rogge
Der Satz „In'n Tispel bin fitzen Butt wöt de Rödel bequässt“ bedeutet soviel wie „In der Kneipe bei einem guten Essen wird der Handel besprochen“. Hier ist der lebensweltliche Bezug für die Tüötten wieder offensichtlicher. Das Wirtshaus in seiner Funktion als Treffpunkt für die Wanderhändler muss, zumal in einer für sie fremden Umgebung, eine wichtige Rolle gespielt haben. 


Illustration des geheimsprachlichen Ausdrucks „Soimskassen" für „Ladengeschäft" im Bleiglasfenster des Hauses Telsemeyer | © Draiflessen Collection, photo/Foto Henning Rogge
Bei den abschließenden Worten „De Soimskassen käump later“ oder „Das Ladengeschäft kam später“ wird schon aus inhaltlichen Gründen deutlich, dass es sich um eine Formulierung aus der Zeit nach der Blütezeit des Wanderhandels handeln muss: Die „Sesshaftwerdung“ der Tüötten im Kontext der Eröffnung von Ladengeschäften in ihren Handelsgebieten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts muss dem Autor der kurzen Aussage schließlich bereits bekannt gewesen sein. Sie erinnert im Kontext der vorangehenden Sätze zum Alltag der Wanderhändler die Leser*innen daran, dass die stationären Geschäftsgründungen der Tüötten in eine spätere Zeit fallen. 


Frühe C&A-Werbung mit Abbildung des 1860 eröffneten sogenannten Stammhauses in Sneek im Vordergrund | © Draiflessen Collection, photo/Foto Fred Dott
Diese neue Epoche begann für Clemens (1818–1902) und August (1819–1892) Brenninkmeijer, die Gründer von C&A, frühestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Die 1841 ins Leben gerufene Firma betrieb im niederländischen Sneek bereits seit Gründung ein Lager, welches aber nur an Markttagen und an den Wochenenden geöffnet war. Das erste Ladengeschäft mit ausgedehnten Öffnungszeiten, das seine Türen 1844 öffnete, war ein kurzlebiger Lebensmittel-, Manufaktur- und Kolonialwarenladen in Dedemsvaart. Der Beginn des stationären Textileinzelhandels von C&A lässt sich mit Eröffnung des ersten Geschäfts für Stoffe und Damenoberbekleidung in Sneek auf 1860 datieren. Der Wanderhandel wurde nicht von einem Tag auf den anderen abgelöst, sondern verlor seine Bedeutung langsam zugunsten der expandierenden Ladengeschäfte. Um die Jahrhundertwende gaben die Brenninkmeijers das sogenannte Hausieren schließlich auf.


Clemens Brenninkmeijer (1862–1938) | © Draiflessen Collection
Etwa parallel zum Zurückgehen des Wanderhandels büßte auch die Geheimsprache als Kommunikationsmittel an Bedeutung ein. Ihr Aussterben lässt sich an Äußerungen von Louis Stüve ablesen, der sich bereits 1909 für einen im Vorjahr von ihm über die Geheimsprache veröffentlichten Aufsatz rechtfertigt und ihr kaum noch einen praktischen Wert für den Handel zuspricht. Auch in einem Radio-Interview von 1935, das Teil der Ausstellung ist, attestiert Clemens Brenninkmeijer (1862–1938), jüngster Sohn des Unternehmensgründers August, dass ihm zwar noch einige Ausdrücke geläufig seien, er aber darüber hinaus über keine Sprachkenntnisse mehr verfüge.
 
Literatur:
Siewert, Klaus: Humpisch. Eine Geheimsprache westfälischer Leinenhändler, Hamburg / Münster 2011 (Reihe Sondersprachenforschung Band 12)

Stüve, Louis: Die Tiöttensprache. Eine niedersächsische Geheimsprache, in: Niedersachsen. 14. Jahrgang 1908, Nr. 1, S. [1–6]

Stüve, Louis: Eine Geheimsprache westfälischer Kaufleue aus dem Kreise Tecklenburg. Mit vollständigem Wortverzeichnis, Recke 1923.


Jens Brokfeld, der Autor dieses Blog-Beitrags, gehört seit Oktober 2019 als Archivar zum Team der Draiflessen Collection. Zu seinen beruflichen Stationen zählen das Montanhistorische Dokumentationszentrum beim Deutschen Bergbau-Museum Bochum und das Unternehmensarchiv der Bertelsmann SE & Co. KGaA. Er legte seinen Bachelor und Master an der Fachhochschule Potsdam in der Fachrichtung Archiv ab. Das Erststudium in den Fächern Englisch und Philosophie führte ihn nach Wuppertal, Canberra und Freiburg.


Kommentare

20.12.2024 - 06:03
Klaus Siewert
Ein hervorragender Überblick, mit seltenen, bislang weithin unbekannten Abbildungen und Fotos.
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