13.12.2018

… von Reise.Bildern und Bilder.Reisen …

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„Ich war da, ich habe es mit eigenen Augen gesehen und ich beschreibe es mit Bildern und Worten! So, wie ich es beschreibe, war es!“ Mit eigenen Worten fasst Dr. Maria Spitz, Kuratorin der Kabinettausstellung REISE.BILDER die Kernaussage des 1567 erstmalig veröffentlichten, bebilderten Reiseberichts und seines Autors Nicolas de Nicolay  zusammen.


Nicolas de Nicolay, Les navigations et voyages, faicts en la Turquie (Ausschnitt), Antwerpen: Willem Silvius, 1576 | © Draiflessen Collection (Liberna), Mettingen

Die Reise in den Orient

Der französische Geograf (1517–1583) wird 1550 vom französischen König Heinrich II. auf eine Reise nach Konstantinopel, dem heutigen Istandbul, geschickt. Er reist als Begleiter des französischen Botschafters am 5. Juli 1551 von Marseille auch nach Algier und Malta, von dort zu den Kykladen und den Dardanellen, um am 20. September 1551 in der Hauptstadt des türkischen Reichs einzutreffen. Er verbringt dort die Wintermonate und reist im Mai 1552 über Italien zurück nach Frankreich. De Nicolay nutzt die Zeit in Konstantinopel, um die Sitten und Gebräuche der ihm bis dahin unbekannten Menschen intensiv zu beobachten und zu dokumentieren, dies vor allem in ausführlichen Beschreibungen über ihr Erscheinungsbild und ihre ganz unterschiedlichen Bekleidungsformen, die ihm, als Franzose, neu, ungewöhnlich und exotisch erscheinen. 

Für seinen Bericht, die „Navigations orientales“, fertigt er zahlreiche detaillierte Zeichnungen, von denen später 61 Eingang in die gedruckte Fassung finden. Als ganzseitige Holzschnitte finden sie Platz auf den rechten Buchseiten – ungewohnt prominent, ausschließlich angelegt als visuelle Belege seiner Schilderungen. Durch die Möglichkeiten des neuen Mediums des Buchdrucks finden sich seine Abbildungen in den folgenden Jahrzehnten immer wieder „abgekupfert“ in Publikationen wieder. So prägen seine „aus eigener Anschauung“ entstandenen, damit also ausdrücklich als authentisch zu verstehenden, verbildlichten Erfahrungen für lange Zeit nachhaltig das europäische Bild des orientalischen Menschen.


Abraham Ortelius, Tvrcici imperii descriptio, 1603 | © Draiflessen Collection, Liberna

Ein Tatsachenbericht?

Nicht zuletzt hinsichtlich der Schilderungen von Aussehen und Kleidung höher gestellten Frauen der osmanischen Gesellschaft, die sich nicht in der Öffentlichkeit gezeigt haben und die de Nicolay also gewiss nicht gesehen haben kann, drängen sich schnell Fragen auf: Wie realistisch sind denn tatsächlich die Schilderungen und Darstellungen des Geografen? Sind diese tatsächlich ein hundertprozentiger Spiegel der Ethnien im Osmanischen Reich? 

Mit gewissen Einschränkungen können die Fragen durchaus bejaht werde: Nicht immer hat de Nicolay direkt vor Ort gezeichnet, möglicherweise waren etliche Details in der Erinnerung nicht mehr präsent, ging es manchmal nur mehr um die Essenz des Gesehenen. Das, was er nicht selbst sehen und erleben konnte oder durfte, hat er sich berichten lassen oder aus anderen schriftlichen oder bildlichen Quellen entnommen.  Nicht zuletzt muss ihm auch ein gewisses Maß an künstlerischer Freiheit zugestanden werden, sodass manche Schilderung, manch zeichnerisches Ergebnis nicht ganz authentisch dem original entsprechend ausgefallen ist.


Nicolas de Nicolay, Les navigations et voyages, faicts en la Turquie, Antwerpen: Willem Silvius, 1576 | © Draiflessen Collection (Liberna), Mettingen

„Seht her, ich bin dagewesen!“

Es lässt sich also – selbstverständlich neben vielen anderen Themenbereichen der Ausstellung  – trefflich über die „Faktizität“ der „Navigations Orientales“ nachdenken. Zumal die Frage, inwieweit Dokumentationen und Bilder die Realität abbilden, eine Debatte ist, die nicht nur mit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert auf ganz neue Art entfacht wurde und bis in die Gegenwart geführt wird. Spannender ist hier zu überlegen, was Nicolas de Nicolay in seinem Anspruch, alles „aus eigener Anschauung“ gesehen zu haben, womöglich mit der heutigen Touristin verbindet, die sich so mit dem Turm von Pisa fotografieren lässt, dass es aussieht, sie stütze diese prominente Architektur – ganz unabhängig davon, dass von diesem „außergewöhnlichen“ Motiv Tausende im Internet und in privaten Netzwerken kursieren? Sie, ebenso wie der Facebook-Freund, der ein Selfie vor der Mona Lisa macht, drücken damit nichts anderes aus als de Nicolay, nämlich: „Seht her, ich bin wahrhaftig dagewesen!“


Turm in Pisa | © Juanje Garrido, www.shuterstock.com

„Kleider machen Leute“

Dieser Satz ist nur scheinbar eine Binsenweisheit. Sie war zu Zeiten de Nicolays gültig, für den es selbstverständlich war, den Stand eines Menschen an der Kleidung auszumachen, da Kleiderordnungen genau festschrieben, wer was zu tragen hatte. Möglicherweise war es für ihn überraschend zu sehen,  dass das ebenso für die osmanische Gesellschaft galt. Vielleicht aber war es für ihn auch überraschend, wie sehr sich genau in diesem Punkt die unterschiedlichen Völker gleichen können – möglich auch, dass er beides erst gar nicht bemerkenswert fand.

Dass von der Kleidung, also der „Hülle“ des Menschen, auf seine Rolle, seinen Stand oder seinen Charakter geschlossen wird, hat offensichtlich jahrhundertelange Tradition und bis in die Gegenwart überlebt. Ob die zahlreich publizierten Bilder eines Reiseberichts wie das de Nicolays oder die in dieser Zeit beliebten Trachtenbücher sowie deren mannigfaltige Kopien und Adaptionen dazu beigetragen haben, dass wir bis heute klare, bildhafte wie vielleicht auch stereotype Vorstellungen von mehr oder weniger exotischen Volksgruppen haben – darüber besteht noch Forschungsbedarf.


Nicolas de Nicolay, Les navigations et voyages, faicts en la Turquie, Antwerpen: Willem Silvius, 1576 | © Draiflessen Collection (Liberna), Mettingen

Reisen in Vorstellungswelten

Ebenso interessant, so erläutert Maria Spitz und schafft damit auch die thematische Verbindung zur Ausstellung „grenzüberschreitend“: Kleidungsstile, verarbeitete Materialien, Schmuckformen zu erforschen, sie zu erfassen, zu dokumentieren, zu sortieren und zu erläutern – all das diente wie das Medium Karten als eine andere Form von Kartierung der Welt und dem Wunsch nach Orientierung in dieser. De Nicolay bedient mit seinem Werk sicherlich den eigenen Wunsch (und den seines Aufraggebers), Wissen zu sammeln, zusammenzufassen, weiterzugeben und andere daran teilhaben zu lassen. Er konnte sich auf diese Weise aber auch das Fremde aneignen und vertrauter machen. Sein Reisebericht ermöglichte das ebenso seinen Lesern, die dafür aber keine kostspielige, zeitaufwendige, strapaziöse und nicht zuletzt auch gefährliche Reise auf sich nehmen mussten. Dennoch konnten sie zumindest gedanklich in fremde und exotische Welten abtauchen. Und: Nicht jeder der heutigen Reisebuchkäufer, Abonnenten von Reisemagazinen oder Followern von Reise-Blogs wird diese einzig aus dem Grund lesen und Fotostrecken folgen, um die Reisen tatsächlich selbst anzutreten. 

Die Begeisterung der Menschen des 17. Jahrhunderts, anhand bebilderter Bücher wie die de Nicolays in aufregende Vorstellungswelten zu reisen, unterscheidet sich möglicherweise gar nicht so sehr von unserer heutigen. Auch wenn im 21. Jahrhundert Reisen wesentlich komfortabler und Reisewege immens kürzer geworden sind, kann das innere Universum, angereichert durch Bilder und Geschichten anderer, durchaus ein ebenso attraktives Reiseziel sein.




Mit Dank an die Kuratorin Dr. Maria Spitz, Kunsthistorikerin, spezialisiert insbesondere auf Mode und Textilien – nicht nur, aber auch aus dem Orient. Sie hat sich auf ein spannendes Gespräch über ihre aktuelle Ausstellung, die noch bis zum 17. Februar zu sehen ist, eingelassen.


 


 


Kommentare

9.01.2019 - 11:01
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