Hohe Schneiderkunst als studentisches Experiment
Der erste Kontakt
Christine Löbbers erzählt, sie habe vor zwei Jahren an einem anderen Projekt mitgewirkt, in dem Kleider entstanden sind, angelehnt an die Mode der 1920er-Jahre. Die Frage war nun, warum „so etwas“ nicht in Zukunft auch präsentiert werden könnte. Sie war also auf der Suche nach einem Haus, das sich auch dem Thema Mode widmet, möglichst in der näheren Umgebung. Nun war ihr die Draiflessen Collection und deren „textiler Bezug“ durchaus bekannt, sie hatte die Ausstellung MYTHOS CHANEL gesehen, die hier 2013 präsentiert worden war und die sie sehr beeindruckt habe. Es gab daher, so räumt sie ein, eine gewisse Berührungsangst, einen ersten Kontakt zu knüpfen. „Wie es das Glück wollte“, traf Löbbers fast direkt auf Maria Spitz und bei ihr gerade den richtigen Nerv, arbeitet sie doch in der Draiflessen Collection als Kuratorin für Mode und Textil und bereitete gerade die Ausstellung MODEBILDER vor, in der sie Werbeanzeigen von C&A aus den 1920er-Jahren in einer digitalen Präsentation gezeigt hat. Sofort und mit Freude nahm Spitz die Einladung zu einem Besuch des Osnabrücker Fachgebiets und einem Kennenlernen des Kollegiums an, hatte sie doch schon seit Langem den Wunsch nach Kontakt zur Universität, insbesondere zu diesem Fachbereich.
Das Experiment
Noch vor dem ersten Lockdown reifte das gemeinsame zukünftige Ausstellungsprojekt, das in Zusammenarbeit mit den Studierenden des Fachgebiets entstehen sollte: Anhand ausgewählter historischer Modelle von Modeschöpfer*innen aus der Sammlung der Draiflessen Collection sollten ganz eigene Kreationen entstehen. Maria Spitz schildert mit Begeisterung, wie toll sie es schon von Anfang an empfunden habe, gemeinsam zu arbeiten an diesem „Experiment, das total gut aufgegangen ist“. In die geplante studentische Semesterarbeit, deren textile Ergebnisse in die Präsentation in Draiflessen münden sollte, flossen dann im Laufe der Zeit „viele Ideen und Facetten der Studierenden“, die, so Maria Spitz, „einen ganz anderen Blick haben“, was sie als sehr bereichernd empfunden habe. Als Museumsmitarbeiterin übernahm sie dabei den theoretischen Part: Ein Ausstellungsprojekt muss konzipiert und auch architektonisch geplant werden, es sollte ein begleitendes Booklet entstehen, es musste ein museumspädagogisches Programm entwickelt und es sollte digital über die Social-Media-Kanäle kommuniziert werden – dies alles war auch Teil der Semesteraufgaben für die Studierenden, die damit sogenannte Credit Points für den angestrebten Studiengang erwerben konnten.
Christine Löbbers hat als Dozentin (und unter anderem auch ausgebildete Damen-Schneiderin im Handwerk) wiederum den praktischen Teil des Projekts übernommen, die Betreuung während des Entstehungsprozesses der studentischen Modelle: „Ich bin Praktikerin“. Fasziniert habe sie dann vor allem der „Einfallsreichtum“ ihrer Studierenden, die „über sich selbst hinausgewachsen“ seien in der intensiven Auseinandersetzung mit den historischen Modellen, den Arbeitsweisen und den Persönlichkeiten der vier Modeschöpfer*innen Madeleine Vionnet, Christian Dior, Madame Grès und Cristóbal Balenciaga. Dabei sind ganz eigene und sehr unterschiedliche Kreationen entstanden – und das von Studierenden, die in der Regel keine Schneiderausbildung mitbrachten, als Lehramtsstudierende auch keine Designausbildung absolvieren. Sie werden im Rahmen ihres Studiums in der ästhetischen Bildung unterrichtet, erarbeiten dabei auch Mode und Modetheorien, alles wird in einen theoretischen Kontext gebracht, erzählt Löbbers: Entlang der textilen Kette wird die Lehre von den Fasern und deren Verarbeitung vermittelt, viele textile Techniken und die Gestaltung werden auch theoretisch erörtert. Die teilnehmenden Studierenden, so Löbbers, waren daher sehr motiviert, sie „wollten endlich mal praktisch arbeiten“, was sonst nicht alltäglich sei.
Dies konnten sie dann auch intensiv ausleben: Einen Rocksaum von Hand nähen, macht viel Arbeit, dauert Stunden. Sie habe es aber „lieben gelernt übers Tun“, so äußerte sich eine Studentin Maria Spitz gegenüber. Dieses Handwerkliche und Zeitaufwändige gehöre aber ebenso zur „Hohen Schneiderkunst“ wie Knopflöcher mit der Hand zu umsäumen, so Christine Löbbers. Das habe die Studierenden durchaus mit einer gewissen „Ehrfurcht“ erfüllt.
Balenciaga, Dior, Grès, Vionnet – eine bewusste Auswahl
Auf die Frage, warum sie ausgerechnet diese vier Kleidungsstücke als Modelle und Inspirationen ausgewählt hat, betont Maria Spitz , es sei ihr wichtig gewesen, dass diese auf ersten Blick durchaus „toll“ sein sollten, dabei aber schlicht und nicht zu opulent in der Schnittführung. Außerdem sollten sie sich sehr voneinander unterscheiden, auch hinsichtlich der Arbeitsweise der*s jeweiligen Schöpfers*in: Während Vionnet ihre Kleider an einer Holzpuppe entwickelt hat, arbeitete Madame Grès am Körper des Modells. Dior hat seine Stücke zeichnerisch entwickelt, Balenciaga war insbesondere vom Schneiderhandwerk inspiriert, hat er doch bereits als kleiner Junge viel Zeit bei seiner Mutter im Schneideratelier verbracht. So standen den Studierenden mit diesen vier Designkleidern in jeder Hinsicht ein möglichst großes Auswahlspektrum zur Verfügung.
Gruppenarbeit versus Corona
Die coronabedingte Situation hat natürlich auch in diesem Fall das übliche gemeinsame Arbeiten in Gruppen in den Räumen der Universität unmöglich gemacht, was Christine Löbbers zunächst „schlaflose Nächte“ bereitet habe – wie sollte so ein gemeinsames Projekt umgesetzt werden können? Die Lösung zeigte sich dann in einem freieren und eigenständigeren Arbeiten von zuhause aus, die Theorie mussten sich die Studierenden selbst aneignen, „getroffen“ haben sich alle virtuell. Und das bis auf zwei Wochenenden, in denen praktisches Arbeiten in coronakonformen Kleingruppen möglich war, um zuzuschneiden, zu nähen, anzuprobieren und zu experimentieren im Bestreben, sich die Arbeitsweisen der Vorbilder anzueignen.
Auch die Vermittlung der musealen Arbeit, vor allem aber, überhaupt erst die Originale denjenigen zu zeigen, die diese für das Booklet beschreiben sollten, gestaltete sich unter diesen Bedingungen herausfordernd: „Es war schwer, das alles virtuell rüberzubringen“, so Maria Spitz, die über die Möglichkeit froh war, Ende Mai/Anfang Juni wenigstens in kleinen Gruppen etwas von der Raumsituation und den Modellen vor Ort zeigen zu können, und nicht zuletzt, wie Ausstellungsmachen funktioniert.
Das Ergebnis
Was ist letztlich entstanden? Ein umgearbeitetes Brautkleid aus Second Hand, das abgewandelt und bestickt wurde, ein Kleid als „Hommage à Princess Margaret“, ein anderes Kleid, dessen Basis ein schwarz gefärbtes Bettlaken war … dies nur als Beispiele genannt: „Zu viele tolle Modelle“, um alle gemeinsam zu zeigen, so Spitz begeistert. Daher werden nun bis zum Ende der Präsentation in DAS Forum der Draiflessen Collection alle paar Wochen die Modelle ausgetauscht, um alles auch präsentieren zu können. Aber das ist natürlich auch ein Grund, diese Präsentation öfter als einmal zu besuchen …
Eine Information war dann auch noch wichtig: Der Anteil der männlichen Studierenden in diesem Studienfach der Universität Osnabrück ist deutlich unterrepräsentiert. Teilgenommen an diesem „Experiment“ haben ein Mann und 18 Frauen. In den Köpfen vieler, so Löbbers, sei nach wie vor Textilunterricht weiblich besetzt. Vielleicht ändert sich das ja mit Projekten wie diesem …
Christine Löbbers ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Textiles Gestalten aus dem Fachbereich Kultur- und Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück.
Dr. Maria Spitz ist Kunsthistorikerin, spezialisiert insbesondere auf Mode und Textilien, und arbeitet seit 2006 in der Draiflessen Collection. Sie hat unter anderem die Ausstellungen MYTHOS CHANEL (2013), REISE.BILDER (2018/19) und die Online-Ausstellung MODEBILDER (2020) kuratiert.